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Die verschwundene Frau

Die verschwundene Frau

Titel: Die verschwundene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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über den Tisch wie die drei Hexen aus Macbeth über ihren Kessel.

Ein Kind in Trauer
    Nach dem Tag in Coolis und der langen Nacht mit Sal war ich froh, ins Bett zu kommen. Dort las ich noch ein paar Seiten in Morrells Buch über die verschwundenen Personen in Südamerika und streckte die Beine unter den sauberen Laken, um meine Verspannung loszuwerden.
    Gerade als ich eindöste, klingelte das Telefon. Brummend hob ich ab und meldete mich. Schweigen am anderen Ende, dann flüsterte jemand hastig meinen Namen. »Ja, hier spricht V. I. Warshawski. Wer ist da?« »Ich bin's, Robbie. Robbie Baladine. Ich war am Tor, als Sie letzte Woche gekommen sind, erinnern Sie sich noch? Als Sie gekommen sind, um sich mit meiner Mom über... über Nicola zu unterhalten.«
    Jetzt war ich hellwach, schaltete das Licht wieder an und versicherte ihm, dass ich mich natürlich an ihn erinnerte. »Du bist doch der ausgezeichnete Fährtenleser. Was kann ich für dich tun?«
    »Ich... es ist nicht für mich, sondern für Nicola. Ich möchte... ich möchte auf ihre Beerdigung gehen. Wissen Sie, wann sie ist?«
    »Nun, da gibt ein Problem«, sagte ich vorsichtig. »Offenbar ist ihre Leiche aus dem Leichenschauhaus verschwunden. Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte, aber solange sie nicht gefunden wird, kann es auch keine Beerdigung geben.«
    »Also hat er doch recht gehabt.« Seine Stimme klang verbittert. »Ich hab gedacht, er sagt das bloß so, um mich zu ärgern.«
    »Wer, dein Dad?«
    »Ja, BB.« In seinem Schmerz vergaß er völlig zu flüstern. »Er und Eleanor, sie haben solche Gemeinheiten über Nicola gesagt. Als ich ihnen erzählt habe, dass ich zu ihrer Beerdigung möchte, haben sie mich gefragt, warum, denn da heule ich mir ja doch bloß die Seele aus dem Leib. Und dann hat BB noch gemeint, dass es sowieso keine Beerdigung gibt, weil niemand die Leiche findet, und ich soll... ich soll verdammt noch mal den Mund halten.«
    »Das tut mir leid, Kleiner«, sagte ich. »Wahrscheinlich macht sich dein Dad bloß Gedanken darüber, ob er auch wirklich wie ein harter Kerl wirkt und hat ständig Angst, seine Gefühle zu zeigen. Vermutlich tröstet dich das nicht sonderlich, aber du musst ihn dir einfach als jemanden vorstellen, der ziemlich schwach ist und sich so aufführen muss, damit niemand merkt, welche Angst er hat.«
    »Meinen Sie, das konnte wirklich so sein?« In seiner Stimme schwang Wehmut mit, die Hoffnung, dass die Gemeinheiten seines Vaters nichts mit seinem eigenen Unvermögen zu tun hatten.
    »Dein Vater ist ein grausamer Mann. Egal, was der Grund für diese Grausamkeit ist - bitte vergiss nicht, dass sein Sadismus mit ihm selbst, seinen eigenen Bedürfnissen und Schwächen, zu tun hat, nicht mit dir, ja?«
    Ich sprach ein paar Minuten über dieses Thema, bis ich das Gefühl hatte, dass ich das Gespräch in eine andere Richtung lenken konnte. Es gab noch zwei Fragen, die ich ihm stellen wollte, bevor wir auflegten: erstens ob Nicola geraucht hatte. Nein, nein, sagte Robbie, sie habe nie geraucht, nicht wie Rosario, ihr jetziges Kindermädchen, die immer auf eine Zigarette hinter der Garage verschwand, was Eleanor fuchsteufelswild machte, weil sie den Rauch auch dann roch, wenn Rosario noch so viele Pfefferminzbonbons lutschte. Nicola hatte gesagt, sie müsse ihr ganzes Geld für ihre Kinder sparen; sie könne es nicht für Zigaretten oder Alkohol vergeuden.
    Meine zweite Frage war, ob sein Dad irgendwelche Schuhe mit Hufeisenemblemen besitze, und wenn ja, ob eins der Embleme fehle. Robbie antwortete, er wisse es nicht, werde aber nachsehen.
    Ich kam mir ziemlich schäbig vor, weil ich Robbie dazu anhielt, seinem eigenen Vater nachzuspionieren, aber wahrscheinlich war das so etwas wie meine ganz persönliche Rache dafür, dass BB seinen Sohn ständig wegen seines Mangels an Härte kritisierte.
    Bevor Robbie auflegte, fragte ich ihn so beiläufig wie möglich, wie er meine Privatnummer herausbekommen habe, denn sie stand weder im Telefonbuch noch auf der Visitenkarte, die ich ihm in der Woche zuvor gegeben hatte.
    »Die war in BBs Aktentasche«, sagte Robbie mit leiser Stimme. »Bitte sagen Sie mir jetzt nicht, dass ich kriminell hin, weil ich in seiner Tasche herumgesucht habe. Das ist die einzige Möglichkeit, wie ich herausfinden kann, ob er wieder was Schreckliches mit mir vorhat, zum Beispiel dieses Lager für dicke Kinder, wo er mich letzten Sommer hingeschickt hat. Er hat 'ne ganze Mappe über Sie angelegt,

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