Die verschwundene Lady (German Edition)
dazu.«
Bitterkeit klang in der Stimme des hageren, altväterlichen Notars und Anwalts. Er liebte Marion Carmichael schon seit vielen Jahren, und er hatte immer gehofft, sie würde sich ihm doch noch einmal zuwenden. Stattdessen , so sah Stanwell es, war ein anderer, in jeder Hinsicht attraktiverer Bewerber erschienen und hatte sie ihm weggenommen. Die Enttäuschung vernebelte Stanwells sonst klaren Blick und setzte ihm zu.
»Ich begreife das nicht«, sagte Anne. Der Mann führte sie in ein Nebenzimmer, wo schwere Ledersessel standen. Es diente für Unterredungen mit besonderen Klienten, die man nicht unbedingt im Büro nebenan vorm Schreibtisch abfertigte. »Dieses Verhalten ist absolut untypisch für meine Mutter. Dann die hohen Abhebungen.«
»Ja, ja, die Liebe«, sagte Stanwell und hob traurig die mageren Schultern. »Ich hätte deine Mutter auf Händen getragen. Doch mit einem Lord vermag ich natürlich nicht zu konkurrieren. - Ich habe heute übrigens wieder von einer Abhebung von einem Bankkonto deiner Mutter erfahren. Dreißigtausend Pfund sind es diesmal. Und sie hat Weisung gegeben, Aktien und Wertpapiere zu verkaufen, ohne Rücksicht auf den derzeitigen Kurs, was mit Verlusten verbunden wäre. Auch das wird über Mayhawr, Fishbret & Shuster abgewickelt.«
Stanwell zeigte die an ihn geschickte Order. Die Unterschrift war die von Annes Mutter. Mrs. Carmichael hatte kein persönliches Wort hinzugefügt, noch sich zwischenzeitlich bei Stanwell, dem alten Freund der Familie und langjährigen Vertrauten, gemeldet. Stanwell war ganz geknickt.
»Schon wieder dreißigtausend Pfund«, sagte Anne erschüttert. »Das habe ich noch nie erlebt, dass eine Liebe so an die Finanzen geht. Das kann doch nicht wahr sein. Kneife mich in den Arm, Onkel Peter! - Ich glaube, ich träume. Wenn es so weitergeht, sind wir bald bankrott. Was treibt Mutter nur mit dem vielen Geld? Ich kann nicht glauben, dass der Aufenthalt im siebenten Himmel der Liebe so teuer sein soll.«
»Ich verstehe es auch nicht«, sagte Stanwell. »Mir sind aufgrund der Zeilen von deiner Mutter die Hände gebunden, Anne. Man müsste wissen, wer genau ihr Geliebter ist. Ich habe meinen Kanzleivorstand beauftragt, Recherchen anzustellen. - Ich will ihn fragen.«
Stanwell kungelte. Der Kanzleivorsteher hatte die Sekretärin und zwei Anwaltsgehilfen unter sich. Er schlurfte h erein, ein typischer Aktenwurm, der durch flaschendicke Brillengläser lugte. Er begrüßte Anne freundlich.
»Womit kann ich dienen?«
»Was haben Sie in der Sache Carmichael herausgefunden, Stevens?«
»Leider so gut wie nichts. Der englische Adel ist weitverzweigt. Die Angaben waren zu dürftig, als dass sich damit etwas hätte anfangen lassen. Im Adel und Hochadel gibt es jede Menge Henrys. Es könnte sich schließlich auch um einen nachgeborenen Sohn handeln, der gar nicht den Titel trägt, sich aber nominell als Lord anreden lässt .«
»Ist das denn üblich ?«, fragte Anne, die sich in den erlauchten Kreisen nicht so auskannte.
»Manche tun es«, entgegnete Stevens. »Verbieten kann man es ihnen nicht. Warum sollte sich der zweite Sohn eines Lords mit der schlichten Anrede >Sir< begnügen? Wenn Sie das Autokennzeichen hätten nennen können, wäre die Nachforschung ein Klacks gewesen, Miss Carmichael.«
»Ich kenne es nun einmal nicht. Es war zu neblig, um es zu entziffern. Aber ich habe das Wappen gesehen.«
Stevens zuckte die Achseln.
»Tut mir leid, aber ich bin kein Heraldiker. Nur ein solcher kann sämtliche englischen Adelswappen entweder im Kopf behalten oder nachschlagen. - Brauchen Sie mich noch? Ich muss die Grundbuchsache Smithers . / . Fowrian aufnehmen. Sie wissen, dieses schwierige Projekt, Mister Stanwell.«
»Ja. Sie können gehen, Stevens.«
»Einen Moment noch, Mister Stevens«, hielt Anne den Kanzleivorsteher zurück. »Sie sagten ein Heraldiker könnte das Wappen identifizieren. Wenn wir wissen, wessen Wappen es ist, haben wir auch den Lord Henry. Ich muss Bescheid wissen. Das lässt mir jetzt keine Ruhe. - Wo finde ich einen Wappenkundige n , der mir die nötige Aufklärung geben kann?«
Stevens überlegte kurz.
»Ich würde es im Britischen Museum versuchen. Wenn sie dort keinen haben, gibt es keinen mehr. Die Experten im Britischen Museum haben jedes Wappen bis zurück zur Zeit von Richard Löwenherz festgehalten.«
»Ein Nachfahre Löwenherz ’ wird es wohl nicht sein«, sagte Anne.
Stanwell entließ seinen Kanzleivorstand.
»Das war
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