Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
Rauschen des entfernten Lake Silverdeen ausmachen. Grace schlenderte
zu ihr. Sie kletterte ebenfalls auf die Sitzgelegenheit vor dem großen Fenster
und ließ sich gegenüber von Grace nieder. Sie schauten beide aus dem Fenster in
die kühle Nacht hinaus, wobei nur Grace wirkliche Bilder erfassen konnte.
Die Tür öffnete sich und ein paar fremde Mädchen schlichen in das
seicht beleuchtete Zimmer.
„Ist hier noch frei?“, fragte die eine von ihnen.
Aus den Gedanken gerissen, erschrak Grace. Sie drehte sich zu den
Mädchen um und sagte freundlich:
„Aber sicher, kommt rein, wir sind nur zu zweit und hier stehen sechs
Betten, glaube ich.“
Sie lächelte lieb und treu und die Mädchen, die zuvor im Türrahmen
standen, betraten nun das Zimmer. Sie waren zu viert. Das passte. Gut.
Grace stemmte sich von den warmen Polstern hinunter und ging auf die
Fremden zu. Sie gab allen freundlich die Hand und nuschelte schüchtern ihren
Namen. Auch Ceela erhob sich und kam sanft auf dem Boden auf. Sie steuerte da
hin, von wo sie die Stimmen vernahm und gesellte sich zu den Mädchen.
„Mein Name ist Ceela, freut mich euch alle kennen zu lernen“, sagte sie
freundlich und lächelte dabei verlegen. Ihre klaren Augen schimmerten in der
Dunkelheit in Kristallblau.
Vier neue Mädchen im Zimmer, vier fremde, wer waren sie? Auch Ropeys,
das war Ceela bewusste, doch woher kamen sie? Wie sahen sie aus? Warum genau
waren sie hier? Noch mehr Fragen, ohne gefundene Antworten, die Ceela nun
beschäftigten. Es waren nicht mehr nur irgendwelche Mädchen, die zufällig im
selben Bus gesessen hatten. Sie hatten sich ebenfalls nicht für die Flucht
entschieden. Warum? Aus Angst? Misstrauen? Sie schüttelte ihre Gedanken ab und
versuchte sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Eines der Mädchen löste sich aus der Gruppe und trat einen Schritt auf
Grace zu. Sie war klein und nicht gerade die schmälste. Ihr Gesicht war wie
aufgeblasen. Ihre Arme und Beine, ihr ganzer Körper schien zu breit für ihre
Größe, wesentlich zu breit. Das unproportionale Mädchen hatte glatte braune
Haare, die alle gerade abgeschnitten waren und ihr gerademal bis zu den
Ohrläppchen reichten. Erst jetzt betrachtete Grace ihr Gesicht genauer. Ihre
Backen waren prall gefüllt, ihre Augen klein und schmal. Dann fiel Graces Blick
auf ihre Lippen. Sie waren so wulstig und gewaltig, dass Grace fast Angst
bekam. Das Fett war bis zu jeder Zelle ihres Körpers vorgedrungen, dennoch hatte
sie dieses freundliche, sympathische Aussehen, diese treue Lächeln. Das dicke
Mädchen begann ihre Lippen zu bewegen.
„Ihr könnt euch gerne zuerst eure Betten aussuchen.“
Sie lächelte und ihre Stimme hatte einen netten Tonfall. Freundlich
grinste sie und legte Grace eine Hand auf die Schulter. Sie verhielt sich so,
wie man sich eine sympathische Mutter vorstellte. Ihr Name war Madison. Grace
konnte sich Namen nicht gut merken.
„Dankeschön.“ Grace bedankte sich und drehte sich zu Ceela um.
„Wo würdest du gerne liegen?“
„Am Fenster“, antwortete Ceela leise, dann ergänzte sie:
„Ist das okay für alle?“
Nicken. Noch immer blickte Ceela fragend zu allen herüber, erwartete
eine Antwort. Dann verstand sie.
Grace piekte dem einen Mädchen in die Seite und sagte leise:
„Sie ist blind.“
Alle blickten auf und entschuldigten sich vielmals. Ceela wollte kein
Mitleid, nur Gleichberechtigung.
Die Betten standen mit dem Kopfteil zur Wand, auf jeder Seite des
Raumes drei. Am Fußteil waren große Kisten angebracht, auf die man sich hätte
setzen können, doch sie waren hauptsächlich dazu da, um Kleidung darin zu
verstauen. Ceela tastete sich an den Kästen entlang und wählte das Bett auf der
rechten Seite des Zimmers, in der Nähe des Fensters. So wählte Grace das Bett,
das neben Ceelas stand, also das in der Mitte der drei Betten an der rechten
Wand. Die anderen Mädchen verteilten sich und Grace hatte Zeit sich alle
nochmal genau anzuschauen. Sie ließ sich auf die Matratze fallen und nahm sich
einen Augenblick, um die Namen zu wiederholen. In das Bett neben sie war Olivia
gezogen. Es brach Grace das Herz, doch der Grund, warum sie hier war, war
unschwer zu erkennen. Ihre Haut war dunkel. Das reichte der Regierung schon, um
als nicht angesehener Mensch durchzugehen. Sie hasste die Regierung und all
ihre Gesetze und Regeln. Kein Mensch war perfekt, sie konnten keine perfekte
Welt erschaffen, das war unmöglich. Das war krank. Ihre Vorstellung von
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