Die Verstummten: Thriller (German Edition)
An der Absturzstelle fand man die Reste der Ballonhülle, den angekohlten Korb und die drei Leichen – der Fahrer verstarb auch. Und der Sohn hat das alles mit angesehen.«
»Der Sohn?« Carina hoffte, dass er sich noch weiter erinnerte. Sie holte ihr Handy und klickte zu Olivias und Jakobs Hochzeitsfoto. Es war in einem Ballonkorb aufgenommen worden.
Larissa unterbrach mit ihrer Quietschstimme das Gespräch. »Opa, der Grill geht nicht an. Hilfst du uns?«
»Der Grill ?!« Auch Meitinger schrie auf. »Ich hab doch gesagt, dass ihr die Finger davon lassen sollt. Tut mir leid, ich muss … « Er sprach wieder ins Handy.
»War das der ermordete Jakob Loos oder sein älterer Bruder Richard?«, fragte Carina schnell.
»Ach, da gibt es noch einen weiteren Sohn? Das weiß ich leider nicht mehr. Was stinkt denn hier so, ja, spinnt ihr?« Es klickte, er hatte aufgelegt.
65.
Vor Schreck über den Krach rührte sie sich eine Weile nicht. Dann wischte Flora vorsichtig den Boden rings um sich frei, kehrte im Dunkeln mit den Händen die Scherben zur Seite. Langsam richtete sie sich auf und berührte die Wand. Auf Höhe ihres Gesichts ertastete sie den Spiegelrahmen, sie fuhr mit den Fingerspitzen hinein. Dahinter fühlte sie Ziegelsteine und eine Mauer. Der Spiegel hatte vor einem Fenster gehangen! Draußen war es genauso finster wie in ihrem Gefängnis, sie erkannte keine Umrisse. Keine Bäume, keinen Himmel, keine Sterne oder ein Stück Mond. Auch die Luft roch nicht anders als in ihrem Gefängnis. Kein Windhauch oder das Geräusch von Autos, nicht mal eine Grille zirpte. Aber sie war frei! Nun wollte sie nicht warten, bis es hell wurde und sie zurückkamen. Sie zog sich am Rahmen hoch und hievte sich in das Fenster. Mit einer Scherbe versuchte sie das Plastikband durchzuscheuern, aber das war schwer. Sie glaubte schon, sich eher die Finger aufzuschneiden und die Wunden an den Füßen wieder aufbrechen zu fühlen, als dass das Plastikband zwischen den Zacken nachgab. Doch auf einmal war es geschafft, und sie hatte die Fessel zwischen ihren Knöcheln durchtrennt. Dann kam die größte Hürde, sie musste das Band aus ihren Füßen ziehen. Ihre Hände zitterten, und sie konnte das Ende kaum greifen, so glitschig waren ihre Finger plötzlich. Sie dachte daran, wie ihr der Kinderarzt einmal ein Pflaster auf dem Arm entfernt und alle Haare mit weggerupft hatte. Dann würde sie das hier auch aushalten. Sie packte das Plastikteil, das ihre Füße noch verband, und zog. Der Schmerz war so stark, dass sie glaubte, ihr eigenes Fleisch mit herauszureißen. Alles drehte sich in ihr, und in den Ohren rauschte es. Sie verlor den Halt, kippte durch den Rahmen und fiel.
Montag
Einundachtzig Stunden nach dem Ursprung
A Komiker is’ doch der traurigste Mensch von der Welt. Net amal über sein eigna Schmarrn kann er lacha.
Karl Valentin
66.
Es ließ ihr keine Ruhe, Carina musste noch einmal in die Rabenkopfstraße, und wenn es nur wegen der Schuhe war, die sie endgültig zurückgeben würde. Sie packte sich ein Paar Rechtsmedizinerclogs ein und fuhr mit der Straßenbahn in die Menterschwaige. Als sie aufsperrte, behielt sie die Nachbartür im Auge, spähte durch die Hecke, aber sie konnte weder Richard noch Anja Loos sehen. Die verbrachten die Stunden bestimmt im Krankenhaus, aufgeteilt zwischen Enrico und ihrem schwer verletzten Sohn. Der Tatort war so oft umgekrempelt worden, sie selbst war zum vierten Mal hier. Sonst konnte sie sich immer auf ihren Elsterblick verlassen, aber diesmal war alles aus den Fugen geraten.
Die Katze der Nachbarin beispielsweise. Wie war sie hereingekommen? Die Terrassentür hatte die Polizei zugemacht, aber natürlich hatte eine Katze viele Möglichkeiten, vielleicht gab es ein Schlupfloch, oder sie hatte sich irgendwo versteckt, als die Spurensicherung da war. Floras Onkel behauptete, Bingo lauere ständig an der Tür. Womöglich gab es eine Verbindung zum Nachbarhaus, die der Kater benutzte? Sie stieg die Kellertreppe hinab, an den Einschusslöchern vorbei. Dank Olivias Schuhen würde sie keine neuen Spuren hinzufügen. Sie inspizierte die Waschküche und das Zimmer daneben, das mit seinem glänzenden grünen Boden wie eine Miniaturturnhalle wirkte. Eine Reihe edler, aber kaum benutzter – oder sorgfältig geputzter – Fitnessgeräte stand herum. Eine weitere Tür führte zur Steuerung der Solaranlage auf dem Dach, einem riesigen Wassertank und der Zentralheizung. Ganz hinten, direkt unter dem
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