Die Verstummten: Thriller (German Edition)
gab? Die waren bestimmt auch vor Kindern gesichert, aber vielleicht gelang es da besser. Auf Knien robbte sie an der Wand entlang; das Kabel fest umklammernd, schleifte sie die Lampe hinter sich her.
Bald hatte sie jeden Winkel abgesucht. Sollte sie nun im Dunkeln ausharren? Ihr Magen knurrte, und ihr war schwindlig vor Hunger und Durst. Nun hatten sie ihr auch noch das Licht genommen. Was kam als Nächstes? Sollte sie hier herumliegen, bis sie starb, wirklich starb, ohne dass jemand bei ihr war? Selbst ihre Farben waren irgendwie weg, als hätten die Kinderfänger alles verschmiert. Flora wollte nicht mehr schlafen und sich wegträumen, sie wollte nicht mehr im Schlaf angefasst, umgezogen und gewaschen werden. Sie wollte gar nichts mehr. Nur weg von hier. Sie riss am Kabel und schleuderte die Lampe mit voller Wucht gegen die Wand. Es klirrte, der Spiegel zersprang, und Scherben prasselten auf sie nieder.
64.
Carina konnte es nicht genau benennen, aber irgendetwas musste sie bei dem Loosfall übersehen haben. Sie wollte nur schnell ins Institut, dann gleich nach Hause, ein Bad nehmen und endlich ins Bett. Sie überprüfte ihr Handy. Es war kurz vor sechs. Peter hatte nicht angerufen, sie schrieb ihm eine SMS , in der sie fragte, wie es ihm ging; dann löschte sie sie wieder. Er hatte jetzt bestimmt keine Zeit, darauf zu antworten, und so ein Klingeln störte nur.
Carina trat durch die Sicherheitstür und freute sich über Frau Schauers Anblick. Es sah hier ein bisschen nach Detektivbüro aus, nur dass die Sekretärin keine Zigarre paffte, sondern Kuchen mampfte. Die Welt draußen wurde zerbombt, zerschossen oder gesprengt, aber Frau Schauer saß unverrückbar an ihrem Platz, wenn auch ihre Beine, auf einem zweiten Stuhl abgelegt, in Stützstrümpfen steckten.
Ihr fiel das Kuchenstück von der Gabel, als sie Carina bemerkte. »Wie geht es Ihnen denn? Sind Sie wirklich unverletzt? Eine Explosion ist ja nicht gerade alltäglich.«
»Mir fehlt nichts, danke. Sind die Professorin und Dr. Herzog schon zurück?«
»Noch nicht. Die Bergung der Leichenteile dauert noch. Die Chefin hat gerade angerufen.« Sie schob sich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund und kaute.
»Hat sie Ihnen gesagt, wie viele Tote es sind?« Innerlich flehte Carina, dass kein Kind darunter war.
Frau Schauer schüttelte den Kopf. »Ein Haufen Waffen wurden auch gefunden und deshalb rücken jetzt das BKA und LKA und ich weiß nicht was noch alles an. Sie meldet sich später wieder.«
Carina nickte. »Wie geht’s denn Ihren Beinen?«
»Wenn ich sie hochlagere, dann tut nichts weh.«
»Ich brauche bitte noch mal den Obduktionsbericht zu Olivia und Jakob Loos.«
»Den habe ich vorhin einsortiert.« Frau Schauer wedelte mit der Kuchengabel nach hinten in den Aktenraum. »Buchstabe ›L‹, das sind die zwei Ordner im mittleren Fach ganz oben. Ein zweites Mal steige ich da nicht hoch.« Sie schob sich den restlichen Kuchen in den Mund und leckte sich die Finger ab.
Carina räumte einen Hocker ab, auf dem ein paar nagelneue Overknee-Stiefel glänzten, ging damit zu den Regalen und angelte sich den Ordner LI – LU heraus.
»Wollen Sie auch ein Stück oder zwei?« Aus ihrer Schreibtischschublade zog Frau Schauer ein Tablett mit noch mehr Kuchen.
»Haben Sie Geburtstag?«
»Martin hat nächste Woche Konditorprüfung und muss üben. Nur leider passe ich in keine Stiefel mehr, wenn das so weitergeht. Also helfen Sie mir bitte, und sagen Sie dann bitte, wie er ihnen geschmeckt hat, ja?«
Carina nahm aus Höflichkeit ein Stück Käsekuchen, obwohl sie eigentlich keinen rechten Appetit hatte. Ihr Magen brannte noch.
Oskar – ach nein, er hieß Edgar – glotzte Carina an, als sie in ihren Arbeitsraum kam. »Na, was hältst du davon? Meine Mutter ist eine Scharfschützin, dann haben wir einen Doppelmord, einen siebzehnjährigen Geisterfahrer und ein vermisstes Mädchen. Dazu jetzt noch ein kleiner Junge mit Schütteltrauma aus dieser Familie.« Sie legte den Ordner auf die Glasplatte ihres Seziertisches, goss sich ein Glas eiskaltes Wasser aus der Leitung ein und trank gleich zwei Gläser hintereinander. Dabei musterte sie den rekonstruierten Schädel, an dem davor die Erdwespen so säuberliche Arbeit geleistet hatten. Erdwespen, das passte; was hatten sie nicht alles aufgescheucht, BND , BKA , ungeklärte RAF -Morde. Und jetzt ermittelten die auch an diesem Fall weiter. Vermutlich wurde alles weiter vertuscht.
Das Wasser gurgelte in ihrem
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