Die Verstummten: Thriller (German Edition)
später Stunde. Doch heute würde sie zu diesem Zeitpunkt längst in ihrer sauberen Kammer in der Dachschräge unter der schweren Daunendecke eingeschlafen sein.
Als das Feuer gleichmäßig brannte und das Teewasser im Kessel zu kochen begann, wurde ihr endlich warm. Sie zog ihren Pullover aus.
Calimero schaute von seinem Kreuzworträtsel auf, das er aus irgendeiner Zeitung vor dem Verbrennen gerettet hatte, und starrte auf ihren Busen; dabei trug sie eines von ihren weitesten Schlabbershirts. »Odins Rabe, weißt du, wie der hieß?«
»Odin?« Krallinger rumpelte herein, voll beladen mit einigen Tüten und zwei Sechserpacks Bier. »Heißt der Neue so, den wir als Nächstes umlegen sollen?« Ein Weißbrot rutschte ihm aus der Armbeuge, Iris fing es auf. Sein Hemd klebte ihm am Leib, und seit dem letzten Mal, als sie sich getroffen hatten, hatte sich das Feuermal weiter ausgebreitet. Inzwischen reichte es ihm vom Ohr bis in den Hemdkragen.
»Der nordische Gott, du Hirsch.« Calimero tippte auf die Zeitung. »Ich hab’s. Munin passt, nicht Hugin«, murmelte er und überkritzelte die falschen Buchstaben, gerade als Felix eintraf. Einen Zigarettenstummel im Mundwinkel, die Augen verengt, beugte er sich durch den niedrigen Türstock und verharrte dort einen Augenblick auf seine betont lässige Art, die ihm entweder angeboren war, oder die er sich von einem Hollywoodfilmplakat abgeschaut hatte. Jedenfalls ließ diese Pose jede Frau aufschauen. Vor 1989 hatte er als Romeo gearbeitet; so wurden jene Stasispitzel genannt, die Westfrauen, meist Sekretärinnen in Ministerien, bezirzen sollten, um sie zur Spionage zu überreden. So viel sie wusste, hatte er Spitzennoten erhalten, ein Tausendsassa, der angeblich im Osten auch noch verheiratet war, unter welchem Namen auch immer. Er warf eine Stange Zigaretten auf den Tisch, so als gelte diese Währung drei Jahre nach der Wende noch irgendetwas. Sein Beitrag zur Verköstigung, dachte Iris spöttisch und lehnte sich ans Fenster. Sie rauchte selbst ab und zu, aber viermal Männerschweiß auf engstem Raum, dazu die Hitze des Ofens, das nahm ihr die Luft.
Felix hustete, trat die Zigarette auf den Dielen aus, fingerte eine neue aus seiner Hemdtasche, zündete sie an und stieß ihnen eine Rauchwolke in die Gesichter. »Der Imker am Ende des Waldwegs, seit wann haust der denn da?«
Krallinger lachte, packte eine Salami aus. »Du meinst die Waasbergerfamilie? Den Honig von denen hat uns meine Tante an Weihnachten und zum Geburtstag rübergeschickt. Nette Leute, ein bisschen eigen, na ja, wer ist das nicht, besonders hier in der Gegend. Du hast dir auch schon welchen aufs Brot geschmiert, weißt du nicht mehr?« Krallinger und Felix kannten sich seit DDR -Zeiten. Das Schwedenhäuschen hatte, wie auch die Villa ein paar Kilometer weiter, seiner verstorbenen Tante gehört. Ein Glückspilz war er, der Krallinger, trotz seiner auffälligen Blessur. Seine Tante war noch immer im Grundbuchamt auf den Namen Hofer eingetragen, was in Bayern gleichbedeutend mit Schmidt oder Müller ist. »Glaubst du etwa, der Imker überwacht uns per Bienensensor?« Er summte übertrieben laut und warf Felix eine Bierflasche zu. »Hier, trink erst mal was, das beruhigt die Nerven.« Von der Wurst, die die Farbe seines Feuermals besaß, schnitt er sich ein daumendickes Rad ab und häutete es.
19.
Nachdem Carina nach draußen gerannt war und die Tür zugeworfen hatte, wusste sie nicht weiter. Sie stieg langsam die Treppe hinunter und las die Türschilder der anderen Mieter. Manche Namen kannte sie noch. Bei Frau Herzlieb waren sie und Wanda als Kinder oft zum Fernsehen gewesen, wenn Silvia die Fernbedienung der Kyreleis’schen Glotze in ihrer Hebammentasche mitgenommen hatte. Mit ihrer Schwester wetteiferte Carina darum, wer am meisten Geldstücke und Bonbons aus Frau Herzliebs grobmaschigem Sofaüberwurf fischte. Komischerweise verlor Frau Herzlieb das Zeug in Massen aus der Rocktasche und staunte jedes Mal übertrieben, wenn die Mädchen etwas fanden.
Vermutlich hatte auch sie gewusst, dass Wanda und Carinanur Halbschwestern waren. Sollte sie die alte Frau danachfragen? Sie legte die Hand an die Klingel, zögerte noch. Alle Kraft schien aus ihr gewichen. Was sollte sie sagen? Meine Eltern, also meine hysterische Adoptivmutter und meinbesessener Vater verweigern mir die Auskunft. Wissen Sie etwas über meine richtige Mutter? Sie ließ die Hand sinken und ging weiter. Es war, wie es war. Sie sollte
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