Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Morgen hier und hat das Haus der Familie Loos beobachtet?«
»Wieso das Haus? Die wollte doch meinen Bingo fangen, wer weiß, wie viele arme Viecher die hinter den verdunkelten Scheiben schon in die Käfige gesperrt hat.«
»Haben Sie das jemandem von der Polizei erzählt?«
»Selbstverständlich, der ist gestern gleich zu mir rübergekommen, als ich aus dem Taxi gestiegen bin.«
»Gestern?«
»Oder war’s vorgestern, nein, vorhin, ja, ich bin ganz durcheinander wegen der Zeitumstellung.«
»Frau Mayerhofer, wir haben August, die Zeit wird erst Ende Oktober zurückgestellt.«
»Das macht mich ja so fertig, das ganze halbe Jahr! Ich schlaf sowieso schlecht und jetzt auch noch das, hoffentlich wird das mit dem Enrico wieder. Er ist immer so nett zu mir. Das gibt es nur noch selten unter den heutigen Jugendlichen. ›Hallo, Agnes‹, ruft er, wenn er mich sieht. Da fühle ich mich gleich zwanzig, ach was, dreißig Jahre jünger. Aber mir sieht man die dreiundachtzig sowieso noch nicht an, oder? In den Monaten ohne ›r‹ gehe ich nämlich jeden Morgen in den Isarauen schwimmen. Neunundsechzigmal bin ich heuer schon gegangen. Und dazu einen Apfel pro Tag, ich sag Ihnen, wenn ich das mit dem Schleimbeutel nicht hätte, wäre ich fidel wie ein junges Reh. Wenn nur der Bingo wieder da wäre. Können Sie die Polizei vielleicht nach dieser Katzenfängerin fragen, ob dabei was rausgekommen ist? Ich will nicht gleich anrufen, die sollen erst mal den Mörder fangen. Ich unterscheide zwischen Mensch und Tier, wissen Sie, der Mensch geht vor, auch wenn ich an meinem Bingo hänge.«
Carina wusste noch nicht, wie und wann, aber sie versprach es. Anscheinend war der Verdacht, dass Enrico seine Eltern umgebracht hatte, trotz Presserummel noch nicht durchgesickert. Spätestens mit der Sonntagszeitung würde sich das ändern.
Agnes Mayerhofer hielt sich den Ellbogen und schlurfte über die Straße. Auf halber Strecke drehte sie sich zu Carina um. »Und was ist? Jetzt kommen Sie doch.« Sie winkte sie herüber.
Carina zögerte; wie sollte sie der alten Dame nur beibringen, dass sie weder eine Zeitschrift brauchte, noch alte Schuhe von ihrer Mutter anziehen würde?
»Dann gebe ich Ihnen gleich den Schlüssel.«
»Welchen Schlüssel?«
»Na, zum Looshaus.«
Carina folgte ihr über die Straße und drei lang gezogene Stufen zu dem tiefer gelegenen Hauseingang. » Das Bier ist im Kühlschrank « stand auf dem Fußabstreifer. Carina vergrub ihre Zehen darin und wartete, bis Frau Mayerhofer wieder erschien und ihr eine eingerollte Zeitschrift und den Schlüssel reichte, der an einer kleinen Plüschfledermaus hing. Das Tierchen würde ihrem Neffen Sandro gefallen.
»Die beiden Brüder, überhaupt die ganze Großfamilie war einfach was Besonderes. Nicht nur ich, jeder im Viertel hier hat sich gefreut, dass es so einen familiären Zusammenhalt heutzutage noch gibt. Schon ein Wunder. Bis dann vor einem halben Jahr das Unglück seinen Anfang nahm.« Sie schwieg einen Augenblick.
»Welches Unglück?«, fragte Carina.
»Sie scheinen nicht gerade auf dem neuesten Stand zu sein.« Sie runzelte die gemalten und die echten Brauen. »Die Eltern der beiden Brüder sind beide tödlich verunglückt. Na ja, besonders den Jakob werde ich vermissen, der war immer so lustig, mit dem habe ich immer ein paar Minuten auf der Straße geratscht. Und er hat sich die Sachen auch gemerkt, die ich ihm erzählt habe. Die meisten sagen doch nur Ja und sind froh, wenn man Ruhe gibt. Manches habe ich oft selbst nicht mehr gewusst, und der Jakob hat mich wieder dran erinnert.« Sie versank in Gedanken. »Tot. Ich will es einfach nicht glauben.« Sie schüttelte den Kopf. »Vorgestern hat er mir noch angeboten, mich zum Arzt zu fahren, aber wir haben da so eine Fahrgemeinschaft. Meine Freundin, die Müller Babette, muss nächste Woche, weil ihre Tochter das will, den Führerschein abgeben, und da hat sie gesagt, sie möchte noch so viel herumfahren, wie’s nur geht.«
Der Fußabstreifer war zwar bequem, aber langsam bekam Carina doch genug, Jakob Loos’ Zuhörergeduld hin oder her. »Haben Sie eigentlich die Schüsse gehört?«
»Nein, ich war doch beim Arzt, kurz bevor das Gewitter losging. Außerdem wird hier ständig rumgeschossen, ich hör das schon gar nicht mehr.«
»Was?« Wie ein Mafiaviertel wirkte die Menterschwaige nun nicht gerade. Doch wer wusste schon, was sich hinter den Villenfassaden abspielte.
»Na, im Geiselgasteig, da kracht es doch
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