Die Verstummten: Thriller (German Edition)
nichtserfahren und würde versuchen zu vergessen. Mutter hin oder her, was bedeutete das schon? Manche wussten alles überihreMutter und hatten keinen Kontakt zu ihr. Vielleicht sollte sie es so sehen und sich auf andere Sachen konzentrieren.
»Carina, warte.« Mattes Ruf hallte durchs Treppenhaus. Mit seinem Stock schlug er ans Eisengeländer und brachte es bis ins Erdgeschoss zum Vibrieren.
Sie beschleunigte ihre Schritte, lief am Eingang vorbei in den Fahrradkeller. Der Schlüssel zum Kyreleis-Verschlag klemmte wie immer unterm Kabel zum Lichtschalter. Sie langte durch das Holzgitter, fischte ihn heraus und sperrte auf. Zum Fünfzigsten hatten sie alle drei Silvia ein Trekingrad mit vierundzwanzig Gängen geschenkt. Außer am Geburtstag, an dem sie gemeinsam zum Picknick an die Isar geradelt waren, war Silvia bisher nicht damit gefahren. Und seit sie das mit der Nase hatte, traute sie sich erst recht nicht mehr. Carina entstaubte das Rad etwas, pumpte die Reifen auf und trug das Rad nach oben. Matte wartete an der Haustür.
»Ich leih mir Silvias Rad aus, ja? Du kannst es ihr sagen oder auch nicht, sie wird’s sowieso nicht vermissen.«
Er nickte, reichte ihr einen gelben Umschlag.
»Das ist von deiner Mutter.« Für Carina, zum zwölften Geburtstag stand darauf.
Samstag
Dreißig Stunden nach dem Ursprung
Etwas Besseres als den Tod findest du überall.
Die Bremer Stadtmusikanten, Brüder Grimm
20.
Die Schlagzeilen surrten ihr in den Ohren. Beim Heimradeln sah Carina immer noch die Fotowand ihres Vaters vor sich. Gedanklich beschäftigte ihn anscheinend nichts anderes als der Krallingerfall. An einer Kreuzung in der Lindwurmstraße überholte sie ein BMW . Haarscharf rauschte er an ihr vorbei. Vorne blitzte es, als der Wagen bei Rot über die Ampel raste. Carina schlenkerte mit dem Fahrrad nach rechts, streifte eine Mauer und konnte in letzter Sekunde vom Rad springen, bevor sie stürzte. Ihr Herz klopfte wild. Sie sah dem schwarzen BMW nach, von dem nur mehr die Rücklichter aufleuchteten, als er um die Ecke preschte.
Na, wenigstens war der Kerl geblitzt worden; hoffentlich musste er ein saftiges Bußgeld zahlen, dachte sie. Ihr Unterarm brannte, sie hatte sich die Haut aufgeschürft. Kleine Blutstropfen sickerten aus der Wunde. Einmalhandschuhe, Überschuhe und Asserviertütchen hatte sie immer dabei, aber kein Pflaster. Vielleicht sollte sie in Zukunft welches mitnehmen, wenn sie mit dem Rad in München unterwegs war. Sie wollte wieder aufsteigen, doch der Riemen ihrer rechten Sandale war gerissen, als sie abgesprungen und irgendwo hängen geblieben war. Auch das noch, die Sandalen hatten sie quer durch Mexiko begleitet. Obwohl sie schon ziemlich abgelatscht waren, fiel es ihr schwer, sich von ihnen zu trennen. Sie stopfte den kaputten Schuh in ihre Umhängetasche und wollte halb barfuß weiterfahren, aber etwas schleifte am Vorderrad. Das Schutzblech war verbeult, hatte einen Riss abgekriegt, sie versuchte es gerade zu biegen, brach es dabei ganz ab und warf es schließlich samt beiden Sandalen in den nächsten Abfalleimer. Was wäre mit ihren Beinen passiert, wenn sie nicht so schnell reagiert hätte? Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit war sie nur knapp einem Unfall entronnen. Sie hielt inne. Was, wenn Enrico, als er die Innenstadt durchquerte und auf die Autobahn raste, auch geblitzt worden war? Dann gab es vielleicht auch Zeugen, so wie sie jetzt? Aber das hatte ihr Vater bestimmt schon überprüft. Nebenbei, beim Waschen und Zurechtzupfen des Rucola.
Schnipp, und der Fall war für ihn abgeschlossen! Vielleicht konnte sie Peter Schuster anrufen und um Auskunft bitten …
Sie hielt inne. Warum interessierte sie das alles überhaupt? Wollte sie Matte trotzen, weil er sie zurechtgewiesen hatte? Oder verbarg der Loos-Fall irgendetwas, das sie nicht losließ, das sie aber noch nicht klar benennen konnte?
Wie von selbst fuhr Carina nicht Richtung Innenstadt, sondern bog am Jüdischen Friedhof ab und radelte am Tierpark vorbei zur Isar. Der heiße Samstagnachmittag überfüllte die neuangelegten Badestrände. Erst nackerte Affen, dann nackerte Menschen. Bei der Marienklause überquerte sie den Fluss und schob steil bergauf in die Menterschwaige.
»Haben Sie meinen Kater gesehen?«, fragte eine ältere Frau, als Carina das Fahrrad an die Hecke beim Looshaus lehnte. »So ein weißer mit ein paar Flecken auf der Brust.« Sie tippte sich an die Knopfleiste ihrer Bluse.
Das konnte die Katze gewesen
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