Die Verstummten: Thriller (German Edition)
sein, die gestern den Schinken vom Terrassentisch des ermordeten Ehepaars geklaut hatte, dachte Carina. Heute hatte sie sie noch nicht bemerkt, auch nicht als sie in das Viertel eingebogen war.
»Bingo verlässt nie den Garten, ich verstehe das nicht, aber seitdem hier was passiert ist, ist er verschwunden.« Sie starrte auf Carinas nackte Zehen unter den Jeans. »Barfuß laufen ist gesund, passen Sie nur mit den Zigarettenkippen auf, dass Sie da in keine reintreten. Die werfen die einfach aus dem Auto.« Sie zeigte auf die andere Straßenseite, als lauerte da eine Horde Kettenraucher. »Gestern hat es von diesen Zeitungsfritzen nur so gewimmelt hier. Schrecklich, schrecklich, das mit der Familie Loos. Wollten Sie zu ihnen?«
»Carina Kyreleis«, stellte sie sich vor. Eigentlich wusste Carina gar nicht, was sie hier wollte. Vielleicht hatte sie sich nur überzeugen wollen, dass der Fall wirklich abgeschlossen war – sofern man das erkennen konnte. Von außen sah man dem Haus das schreckliche Verbrechen nicht an. »Ich habe das Ehepaar gefunden. Und wer sind Sie?«
»Agnes Mayerhofer. Ich wohne da drüben.« Die Frau zeigte auf das kleine Haus gegenüber, das in einer Senke lag und von dem nur das Dach zu sehen war, als duckte es sich vor den protzigen Nachbarhäusern. »Dann sind Sie auch von der Polizei? Aber die sind doch heute Vormittag alle abgefahren.«
»Ich bin von der Rechtsmedizin.«
Agnes Mayerhofer nickte langsam, als müsste der Begriff erst in sie einsickern. »Ärztin also.« Sie klackerte mit ihrem Gebiss.
Hoffentlich zeigte sie ihr jetzt nicht eine Druckstelle oder irgendetwas in der Art.
»Ich war gestern nicht da, als es passiert ist. Schleimbeutel.« Sie hob ihren bandagierten Ellbogen. »Die andere Seite muss auch noch gemacht werden, aber das ist alles halb so wild, im Vergleich mit dem Drama dieser armen Familie.«
»Arm?«
»Na ja, nicht im wörtlichen Sinn. Jakob Loos hat als Architekt gut verdient und seine Frau auch. Auch wenn mich die Vergangenheit nicht mehr so interessiert – den alten Schmarrn muss man auch mal hinter sich lassen – , aber die Sachen von der Olivia Loos lese ich. Wegen ihr habe ich sogar extra die Manuela abonniert. Manchmal sind nette Strickanleitungen drin, obwohl ich ja selbst wegen meiner Arthritis nicht mehr stricken kann.« Sie hob ihre verknöcherten Hände. »Aber ich sehe mir die Sachen immer noch gerne durch. Nur die vielen Schminktipps, die brauche ich alle nicht, weil ich längst meinen Stil gefunden habe.« Sie musterte Carina aus türkisrosa bemalten Augen, die Brauen hatte sie kohlrabenschwarz über den weißen Härchen ihrer eigentlichen Augenbrauen nachgezogen. »Sie schminken sich gar nicht, wie ich sehe. Wahrscheinlich wissen Sie als Ärztin, was für Gifte in dem ganzen Zeug drin sind. Oder soll ich Ihnen eine Manuela holen? Ich wollte sie gerade ins Altpapier tun, aber jetzt hebe ich sie natürlich auf, wegen der Kolonien, oder wie das heißt, die die Frau Loos immer geschrieben hat. Die sind großartig. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, oder besser nahm. Leider.« Sie schnackelte noch einmal mit dem Gebiss und lockte wieder den Kater, vergeblich. »Hoffentlich war das nicht diese Katzenfängerin.«
»Katzenfängerin?« Dass jemand dafür die weibliche Form benutzte, war Carina neu.
Frau Mayerhofer nickte. »Als ich gestern zum Arzt bin, stand da nämlich ein Auto mit verdunkelten Scheiben. Mit Riesenrädern, so eine Art Panzerfahrzeug. Ich weiß nicht genau, wie man diese hässlichen Dinger genau nennt. Da hockte eine drin und hat die Straße beobachtet. Vielleicht waren es auch zwei. Ich hab gesehen, wie das Fenster runtergekurbelt wurde, na ja, geht heutzutage elektrisch, jedenfalls hat sie Zigaretten rausgeworfen. Ich wollte schon hingehen, weil hier viele kleine Kinder spielen und auch mein Bingo. Gerade in dem Moment ist sie aber ausgestiegen, hat die Zigarette aufgehoben und eingesteckt. Ich war froh, denn ehrlich gesagt hätte ich mich gar nicht getraut, wegen meinem Arm. Nicht dass die mir noch eine draufhaut. Gibt es ja auch bei Frauen, so Schlägertypen. Ist Ihnen nicht kalt, ohne Schuhe?«
»Das ist nett, danke, aber mir ist nur die Sandale kaputtgegangen.« Die Frage war eher, ob sie nicht einen Sonnenbrand auf ihren nackten Füßen kriegte bei der Hitze.
»Warten Sie, ich hätte da noch welche von meiner Mutter, welche Größe haben Sie denn?«
»Es geht schon, danke. Diese Frau in dem großen Auto stand also gestern
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