Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Loos sprachen, waren lose in den oberen Fächern verteilt. Da Carina dieselbe Schuhgröße wie Olivia hatte, hoffte sie, einfache Flipflops oder Hausschuhe von ihr zu finden, die sie sich leihen konnte, aber da waren keine, nur hochhackige Holzpantoletten, mit denen sie keinen Schritt würde gehen können – ganz abgesehen davon, dass sie lieber auf leisen Sohlen wandelte, als zu klackern. Nach dem fehlenden Brautschuh hatte die Spurensicherung hier bestimmt schon gesucht. Im untersten Fach standen ein Paar helle Ballerinas, vorne kunstvoll verschlungen und ringsum mit Insekten bemalt. Nachdem sie sich ihre Fußsohlen mit Taschentüchern abgewischt hatte, schlüpfte sie hinein. Wie eine zweite Haut schmiegten sich die Schuhe an ihre Füße.
Wenn man vom Fingerabdruckpulver und den Ziffern an Türrahmen und Möbeln absah, wirkte die Küche immer noch so, als wäre die Familie nur kurz in den Garten gegangen. Auch die eingebrannte Milch auf dem Kochfeld hatte noch niemand weggekratzt. Carina sagte sich, dass sie nur nach Frau Mayerhofers Bingo suchte, nichts weiter, und spähte die Treppe hinauf. Hatte sich oben etwas bewegt? Ein Schatten an der Wand? Sie stieg hinauf und warf noch mal einen Blick in Enricos Zimmer. Die große Sporttasche fehlte, jemand hatte die schmutzigen Sachen weggeräumt. Eine Schranktür stand halb auf. Bestimmt hatte die Tante ein paar Sachen für ihren Neffen eingepackt und ihm ins Krankenhaus gebracht. In Olivias und Jakobs Zimmer waren die Betten abgezogen und die Matratzen entfernt worden. Auch hier klebten überall Nummern zum Tatverlauf. Sie betrat den leeren Raum zwischen Ricos Zimmer und dem Elternschlafzimmer. Hatte das hier ein Gästezimmer werden sollen? Verfärbungen am Parkett und ein paar Farbspritzer zeigten, dass das Zimmer möbliert gewesen sein musste, an der Gardinenstange über dem Fenster hingen Clips für Vorhänge, und hinter der Tür lag ein Gymnastikball. Carina zuckte zusammen, als sie die Haustür unten hörte. Wer kam da? Und wo hatte sie eigentlich den Schlüssel? Hastig suchte sie in ihren Hosentaschen, dann in ihrer Umhängetasche. Wie blöd war sie eigentlich? Heimlich eine verbotene Tür aufsperren und außen den Schlüssel stecken lassen! Langsam, Stufe für Stufe stieg sie wieder hinab, lauschte bei jedem Schritt und spähte in die Ecken. Was, wenn der Schlüssel jetzt fort war? Im Flur standen zwei Riesenpakete neben dem Schuhschrank, und die Haustür war nur angelehnt. Der Schlüssel steckte noch, die Fledermaus baumelte kopfüber hin und her. Sie schrak auf, als ihr plötzlich die weiß gefleckte Katze um die Beine strich. Wo war die jetzt hergekommen? Bingo spähte mit ihr zusammen nach draußen, wo ein Lastwagen einer Möbelspedition gehalten hatte.
Ein Mann in grauem Overall rollte eine Sackkarre mit einem weiteren Paket heran, stellte es ab und wischte sich mit dem Handtuch, das er wie ein Sportler um die Schultern trug, den Schweiß von der Stirn. »Ah, Frau Loos, ein Autogramm bitte.« Er zog den Lieferschein und einen Kugelschreiber aus der Hemdtasche.
»Ich bin nicht Olivia Loos«, sagte Carina.
»Egal. Hauptsache, Sie unterschreiben.« Er lachte sie aus einigen Zahnlücken an.
Carina überflog den Lieferschein. Die Firma entschuldigte sich für die Verzögerung und freute sich nun, die Kinderzimmermöbel »Wunderland« liefern zu können. Alices Bett mit Baldachin, ein Grinsekatzen-Schrank mit herausklappbarem Schreibtisch, ein Kaninchenohrregal mit Uhr und eine Frisierkommode. Mit ihrer Vermutung, dass das leere Zimmer gerade renoviert wurde, hatte sie anscheinend richtig gelegen. Aber warum ein Mädchenzimmer? Das war wohl kaum für den siebzehnjährigen Enrico gedacht. Außer er war ein eingefleischter Alice-im-Wunderland-Fan. Und ein weiteres Kind gab es nicht. Jedenfalls hatte niemand etwas erwähnt, und im Haus deutete auch nichts darauf hin.
»Was ist?« Er wischte sich mit dem Handtuch übers Gesicht und sah auf die Uhr. »Ich hab noch die halbe Ladefläche voll, also bitte.«
Carina unterzeichnete, zog den Schlüssel ab und schloss die Tür. Sollte sie ihrem Vater Bescheid geben?
Die Post ist da. Wie würde das klingen, noch dazu, wenn Matte erfuhr, wo Carina sich befand.
Bingo schnupperte an den Paketen, stolzierte im Haus herum, als zeigte er ihr seinen Palast, und lief die Treppe hinauf.
Am besten, sie fing den Kater ein und brachte ihn Frau Mayerhofer zurück, danach würde sie eine SMS an ihren Vater schreiben. Also ging
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