Die Verstummten: Thriller (German Edition)
damit Carina nicht weglief. »Vielleicht können Sie Ihrem Vater ins Gewissen reden. Er sollte sich mehr schonen, sich ausschließlich auf seine Aussagen im Krallingerprozess konzentrieren und ansonsten freinehmen. Er arbeitet zu viel für seinen Zustand.«
»Warum sagen Sie ihm das nicht selbst?« Carina hatte gehofft, ihrem Vater nicht gleich in die Arme zu laufen, und sein Hausarzt war sie auch nicht.
»Auf mich hört er leider nicht. Sie als Ärztin und Tochter haben da vielleicht mehr Glück.« Sie zog Carina näher, als würde sie ihr ein Geheimnis anvertrauen. »Sie wissen doch, wie Matte ist; wenn es um ihn selbst geht, winkt er ab.«
»In erster Linie kümmere ich mich um Leichen, Frau Kirchleitner.« Carina wackelte mit den erhobenen Fingern, als würde sie gerade in etwas Glibberigem herumwühlen, und entwand sich Frau Kirchleitners vertraulichem Griff.
Das verschlug Mattes Kollegin die Sprache, und sie trat einen Schritt zurück.
»Dachte ich mir doch, dass ich die Stimme kenne.« Peter Schuster trat auf den Gang hinaus und reichte ihr die Hand.
Carina folgte ihm in sein Büro, nahm ihren ganzen Mut zusammen und fragte: »Und was sagt der Sprachforscher in Ihnen zum Klang meiner Stimme?«
»Es ist nicht die Tonfrequenz allein, sondern mehr, wie Sie sprechen, also die Wortwahl und die Sprachmelodie.«
Carina begrüßte den Kollegen Paintner, mit dem er sich das Büro teilte und der sie von oben bis unten musterte wie der Leiter einer Castingshow. Sie trug noch immer Olivias Schuhe, warum hatte sie die nicht einfach zurückgestellt? Aber Peter achtete zum Glück nicht auf ihre Füße. Paintners Seite war mit Polizisten-Cartoons, Urlaubspostkarten, Familienfotos und Kinderbildern tapeziert. Ablagen voller Zettel, Körbe mit Papierrollen und Mappen mit Aktenzeichen stapelten sich auf Rollschränken und Tischen. In Peters Hälfte dagegen stand neben einem sauber gewischten Schrank und der blitzblanken Schreibtischplatte nur eine Tasche am Boden, aus der abgelatschte Sportschuhe ragten.
»Er hat extra alles von sich zu mir geräumt«, sagte Paintner, als er Carinas Blick bemerkte, und erhob sich. »Sonst ist der Pepperl nicht so ordentlich. Am besten, ich lass euch zwei allein, aber seid nicht zu laut. Nehmt auf die einsamen Häftlinge in den Arrestzellen Rücksicht.« Er boxte seinem jüngeren Kollegen gegen die Schulter und verließ das Zimmer.
Mit hochrotem Kopf schloss Peter die Tür hinter ihm, wie um sicherzustellen, dass Paintner wirklich gegangen war, und rollte Carina einen Drehstuhl heran. »Ich bin erst seit Anfang der Woche in diesem Büro, vorher war ich noch im ersten Stock bei den Anwärtern. Paintner nennt das Einarbeitung und triezt mich, wo er kann.«
»Sie wollten mir was zu der Art sagen, wie ich spreche.« Carina versuchte ihm über die Verlegenheit hinwegzuhelfen.
»Stimmt.« Er nickte, runzelte die Stirn, fuhr mit den Fingern in der Luft auf und ab wie ein Dirigent und sagte: »Ich höre das Wort Hunger aus Ihrem Tonfall heraus oder zumindest Appetit, kann das sein?«
Obwohl sie nach der Lasagne ihres Vaters geglaubt hatte, mindestens bis übermorgen nichts mehr zu essen zu brauchen, spürte sie tatsächlich wieder etwas Platz in ihrem Magen. Aus dem Schrank, worin sich eine kleine Teeküche mit Minikühlschrank verbarg, holte Peter Sahne, schlug sie mit einem mechanischen Quirl steif und garnierte ein Riesenmüsli damit, in das er bereits Mandeln, Bananen und Äpfel hineingeschnipselt hatte, bevor er das Ganze mit Joghurt vermischte.
»Ich fühle mich ein bisschen wie im Kochstudio«, sagte Carina, die sich an ein Regal lehnte und ihm zuschaute. »Der kochende Polizist, das wäre doch was fürs Fernsehen.«
Peter lachte, stellte die Schüssel auf den Schreibtisch und reichte ihr einen Löffel. »Kraftfutter, ich brauche das vor der Spätschicht.«
Mit einem Mann, den sie kaum kannte, gleich aus einer Schüssel essen, das hatte sie auch noch nicht getan.
»Moment«, sagte er, als sie probieren wollte. »Duzen wir uns, jetzt, wo wir uns einen Futternapf teilen?«
»Einverstanden«, sagte sie und kostete. Lecker. Das beste Müsli, das sie je gegessen hatte. »Wie war das jetzt mit dem Fingerabdruck und der Sprache?«
»Worte, ob geschrieben oder gesprochen, können eine Waffe sein. Das Gesagte verflüchtigt sich und verzerrt sich in der Erinnerung.« Er gestikulierte mit dem Löffel, Sahne spritzte auf ihre Brille.
Sie putzte sie mit dem Saum ihres Shirts sauber; er
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