Die Verstummten: Thriller (German Edition)

worden.« Sie kratzte auf ein paar Kerben herum, zupfte einen Radierkrümel heraus.
    Peter beugte sich zu ihr, so nah, dass sie seine Wärme spürte. »Das waren Abmessungen, wie groß ein Kind ist, du hast recht. Theoretisch könnten die auch von Enrico sein, aber sie gehen nur bis einen Meter vierzig, wenn ich das richtig sehe. Ist das Floras Größe?« Er bat Verena, Fotos von der fast wegradierten Maßtabelle zu machen. Carina kniete sich auf den Boden und stocherte mit der Gabel in den Ritzen der Dielen. Erst beförderte sie ein paar Perlen, dann Barbieschuhe und schließlich eine Haarspange heraus.
    »Also doch Barbie! Carina, die Mädchenspielzeugfinderin«, rief Verena und knipste die Sachen, bevor sie sie in ein paar Tüten sicherten.
    Peter durchstöberte die Regale im Flur und im Schlafzimmer, zog einzelne Bücher heraus und schüttelte sie; vielleicht war etwas zwischen den Seiten versteckt. Doch anders als Carina neulich bei ihren Eltern stellte er die Bücher wieder ordentlich an ihren Platz zurück. Nur Bücher, in denen ihm Einmerker oder Anstreichungen auffielen, legte er zur Seite.
    Carina erinnerte sich an das zerfledderte Taschenbuch auf Olivias Nachtkästchen, doch es lag nicht mehr dort. Sie sah sich um, ob Vincent es vielleicht irgendwo hingeräumt hatte, bevor er alles eingesprüht hatte. »Dieses Stephen-King-Buch, das Olivia vermutlich zuletzt gelesen hat, weißt du, wo das ist?«, fragte sie Peter.
    » The Green Mile ? Das liegt im Bad, irgendein Witzbold hat es mit aufs Klo genommen.« Durfte man an einem Tatort aufs Klo gehen? Man durfte eigentlich nicht und tat es doch, dachte Carina. Sie fand das Buch auf dem Fensterbrett im Elternbad und blätterte darin. Der Witzbold hatte Klopapier als Lesezeichen benutzt, ein dünnes weißes Blatt segelte heraus.
    »Alles über Terrorismus, was es in der Fachliteratur gibt, sämtliche Verschwörungstheorien neben Biografien von Terroropfern, aber keine Notizbücher, Kalender oder etwas in der Art. Nicht mal Telefongekritzel.« Peter murmelte im Flur vor sich hin. »Vermutlich hat Olivia Loos alles digital festgehalten, doch Computer waren nirgends im Haus, auch nicht im Büro, unten im Keller.«
    »Ich hab was«, rief Carina. Das war kein Klopapierblatt, sondern Luftpostpapier, wie es auch Doña Lupita benutzte, eng mit Bleistift beschrieben, in einer Miniaturschrift, die man mit bloßem Auge kaum lesen konnte. Sie hielt das Papier gegen das Licht und entzifferte laut die ersten Worte, als Peter hereinkam: » Präzise zielen, schießen und die lebenswichtigen Organe zerstören wie bei Rohwedder, unserem letzten Einsatz . Rohwedder, ist das nicht auch einer dieser unaufgeklärten RAF -Morde?« In dem Buch lagen noch weitere hauchdünne Zettel mit Bleistiftnotizen.
    Peter nickte und nahm ihr das Buch samt Zetteln so vorsichtig ab, als hätte Carina eine Papyrusrolle geborgen, die gleich zu Staub zerfallen würde. »Der Präsident der Treuhand war das, Anfang der Neunzigerjahre, ich muss nachsehen, wann genau. Wir arbeiten mit unserem Professor in den Sprachprofiler-Seminaren an den alten RAF -Fällen.« Er packte alles in einen Karton mit Schaumstoffteilen, in dem normalerweise Waffen gesichert wurden. »Rohwedder wurde von einem Scharfschützen in seiner Villa in Düsseldorf durch die Fensterscheibe erschossen. Auch seine Frau ist dabei verletzt worden, hat aber überlebt. Und … « Er stutzte. »Die Schüsse am Kellerabgang, ein ermordetes Ehepaar. Ich weiß nicht genau, warum und wie, aber der Fall hier … erinnert daran.« Seine Augen leuchteten auf, als hätte ein Rest Luminol auch bei ihm gewirkt.

Sonntag
    Zweiundfünfzig Stunden nach dem Ursprung
    In der Schule lernen wir nur die Wörter lesen und sie buchstabieren, sie im Leben anzuwenden
    und nach ihnen zu leben ist eine andere Sache, die wir nur im Leben selbst & durch unser Leben lernen.
    Truman Capote

38.
    »Was kann ich tun? Zögern Sie nicht. Soll ich suchen helfen? Bitte sagen Sie mir, was ich tun kann.« Nachdem die Spurensicherung gefahren war und Peter und Carina Richard und Anja Loos’ Haus betreten hatten, überfiel Floras Onkel sie mit Vorschlägen. »Haben Sie eine Hundestaffel draußen? Wie gesagt, ich zeig Ihnen gerne, wo sie immer gespielt hat. Hier gibt es überall Verstecke, alle kenne ich natürlich nicht. Kinder sind ja so einfallsreich. Aber ich hoffe doch, dass sie nicht bis zur Isar … Taucher, haben Sie welche? Oder am besten ein Hubschrauber, ja, der soll das