Die Verstummten: Thriller (German Edition)
fragte er.
Nachdem sie sich auf dem Klo ein paar Urintropfen abgepresst hatte, die brannten, als zwickte sie jemand mit glühenden Zangen, bat sie ihn erneut um eine Schmerztablette und fragte, welcher Tag heute war.
»Es ist immer noch Sonntag, allerdings nach zehn Uhr abends.« Er gab ihr die Tablettenschachtel und ein Glas Wasser, stellte ihr einen Teller mit Leberkäs und einer Brezen auf einen Stuhl. »Magst du ein Bier dazu?« Er öffnete zwei Flaschen und wollte mit ihr anstoßen. »Prost. Tut mir leid, dass es heute so zugegangen ist. Aber gestorben wird auch am Wochenende, wir hatten heute vier Neuzugänge.«
Als ihr der Biergeruch in die Nase stieg, sprang sie auf und rannte erneut aufs Klo.
37.
»Der Täter ermordet die Eltern und will sich das Mädchen schnappen.« Peter schrieb mit, was er laut aussprach.
Carina spähte auf sein Notizbuch. Er hielt seine Worte in winzigen Stichpunkten untereinander fest.
»Flora war zum Todeszeitpunkt in der Schule.« Peter unterstrich etwas. »Der Mörder wusste also von ihrer Existenz, hat vielleicht sogar die Eltern damit unter Druck gesetzt. Er plant ganz systematisch, denn bevor er sie entführt, beseitigt er hier im Haus all ihre Spuren.«
Carina grübelte. So viele Fäden, ein Wirrwarr an möglichen Zufällen oder Zusammenhängen, in das sich zusätzlichdie Manipulationen des Mörders mischten. Wie sollteman darin die richtige Spur erkennen? »Was, wenn das eine mit dem anderen nicht zusammenhängt?«, warf sie ein.
»Was meinst du damit?« Er drehte sich zu ihr.
»Na ja, das mit den Möbeln, das ausgeräumte Zimmer, dann diese Pakete … Der Mörder konnte doch nicht wissen, dass die verspätet eintreffen.«
»Vielleicht sollte es so aussehen, als leugneten die Eltern die Existenz eines Kindes?«, sagte Vincent.
Verleugnen, dachte Carina. Wenn man das mit totschweigen gleichsetzte, passte das auch zu ihrer Familie.
Peter blickte in die Runde. »Ich habe noch keine eigenen Kinder, aber meine Schwester hat Zwillinge, zwei zehnjährige Mädchen. Wenn die nicht mit ihren Barbies spielen, stolpert man überall in der Wohnung über Reitstiefel. Selbst wenn wir annehmen, Floras Eltern hätten ihr Zimmer selbst ausgeräumt, wo wurden dann die alten Möbel hingebracht? Zum Recyclinghof, verkauft, verschenkt? Hat der Mörder die Eltern auch dazu gezwungen, so wie er sie zwang, in ihre Hochzeitskleider zu schlüpfen? Oder gibt es etwa Kinder, die kein Spielzeug wollen und haben, abgesehen von einem Gymnastikball?«
»Aber auch wenn Flora nicht spielt, dann wären hier wenigstens Klamotten in Kindergröße, vermutlich in Rosa oder Glitzer«, warf Verena ein. »Mit irgendwas würde sie sich doch beschäftigen … mit einem Gameboy, Videospielen. Auch wenn es kein typisches Mädchenspielzeug ist.«
»Bei alldem wundert es mich, warum die Verwandten – Onkel, Tante, Großmutter – das Kind nicht erwähnt haben.« Vincent öffnete eine neue Wasserflasche.
»Vermutlich weil sie davon ausgingen, dass Flora in Sicherheit ist«, erklärte Peter. »Sie dachten, sie wäre in Italien.«
Ein Signalton erklang. Vincent beugte sich über sein Notebook. »Wir haben ihn. Die Fingerabdrücke stammen von einem ehemaligen GSG 9-Beamten, seit 2005 nach einer Reihe hoher Auszeichnungen aus dem Dienst entlassen.« Alle starrten auf die Fotos, die sich nach und nach auf den Bildschirm luden. Laut Beschreibung war Sascha Lambert einen Meter fünfundsiebzig groß und dreiundfünfzig Jahre alt. Ein Mann mit weit auseinanderstehenden, von dichten, wulstigen Brauen überschatteten Augen, die – wie unter einer Sonnenbrille – dem Betrachter nicht verrieten, ob er bei der Aufnahme in die Kamera geblickt hatte.
Für Sekunden schienen alle mit Atmen aufzuhören. Dieses Gefühl, bei einer Ermittlung einen Durchbruch zu erleben, hatte Carina bisher nicht gekannt. Als Rechtsmedizinerin war sie selten bis zur Lösung eines Falles dabei, oft erfuhr sie nicht einmal von dem Urteil, wenn sie für ein Gericht ein Gutachten vortrug. Obwohl seit der Kindheit von der Polizeiarbeit ihres Vaters geprägt, hatte er sie doch nie daran teilhaben lassen, wie es sich anfühlte, einen entscheidenden Schritt weitergekommen zu sein. Erst als Erwachsene war ihr bewusst geworden, dass sie es an seiner Stimmung hätte ablesen können. Wenn er plötzlich mitten am Nachmittag heimkam und zu einem Ausflug bereit war. Nur nicht in den Tierpark, Gefangene könne er nicht mehr sehen. Lieber Rollschuh fahren.
Weitere Kostenlose Bücher