Die Versuchung der Hoffnung
noch pünktlich in den Hörsaal und quetsche mich in der letzten Reihe neben Valerie, die mir vorsichtshalber einen Platz freigehalten hat.
„Ich dachte schon, du kommst heute wieder nicht“, raunt sie mir augenzwinkernd zu, als ich endlich sitze.
„Doch, ich habe nur ein bisschen verschlafen“, gebe ich leicht verärgert zurück.
„Hope, du wirst mir immer sympathischer. Du bekommst ja richtig menschliche Züge.“ Val lächelt zufrieden, bevor sie ihren Kugelschreiber zückt, um sich Notizen zu machen und der Vorlesung zu folgen. Ich weiß, was sie sich vermutlich denkt. Aber mein Zuspätkommen hatte leider eher unerfreuliche Gründe. Ich hatte die ganze Nacht Albträume und konnte kaum schlafen. Als ich zum gefühlt zweihundertsten Mal auf meinen Wecker geschaut habe, um zu sehen, wie spät es ist, habe ich ihn wohl versehentlich ausgestellt. Müde reibe ich mir die Augen, bevor auch ich Zettel und Stift zücke und versuche, dem Geschehen vor mir irgendwie zu folgen.
Der Vormittag scheint sich endlos hinzuziehen, nachmittags muss ich arbeiten.
Irgendwie ist das heute nicht mein Tag. Ich bin müde, abgespannt, gereizt und ein bisschen depressiv. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich heute Abend nicht mit Jonathan treffen kann, weil er zu irgendeiner wichtigen Probe muss. Was ja nicht so schlimm wäre, wenn ich ihn nicht schon die ganze Woche lang nicht gesehen hätte.
Furchtbar! Es gab Zeiten, da habe ich die Augen verdreht, wenn andere Frauen sich so von ihrem Partner abhängig gemacht haben. Jetzt bin ich selbst keinen Deut besser.
Du bist vor allem eine Heulsuse, Hope!
Ach, halt doch die Klappe.
Der ganze Nachmittag ist eine einzige Katastrophe. Meine Chefin meckert wegen angeblich von mir falsch einsortierter Bücher. Mir fällt ein ganzer Stapel bereits vorsortierter Bücher vom Bücherwagen herunter. Alle Leute, die sich heute in die Bibliothek verirrt haben, scheinen schlechte Laune zu haben und doofe Fragen zu stellen.
Auch hier zieht sich die Zeit beinah ins Endlose. Als endlich Feierabend ist, bin ich so kaputt, dass ich mich am liebsten einfach zwischen den Bücherregalen zusammenrollen würde, um einzuschlafen.
Schließlich raffe ich mich aber doch auf, suche meine Sachen zusammen und verlasse nach einem kurzen Gruß die Bibliothek.
Als ich mein Handy in die Hand nehme, sehe ich, dass ich acht Anrufe in Abwesenheit hatte. Kurz hoffe ich darauf, dass wenigstens einer davon von John oder zumindest von Valerie ist. Stattdessen sind alle acht von meiner Mutter. Genervt will ich mein Handy einfach ausschalten, als sie bereits ein neuntes Mal anruft und ich doch auf die Taste zum Annehmen drücke. Fast im selben Moment könnte ich mir deswegen selbst in den Hintern beißen. Denn alles, was sie will, ist es, mir Vorwürfe machen, weil ich mich in den letzten drei oder vier Wochen so wenig habe zu Hause blicken lassen. Sie erzählt mir, wie schlecht es meinem Bruder geht. Wie schlecht es ihr geht, weil sie so viel zu tun hat. Fragt mich, ob mir das denn alles egal sei, ob mir meine Familie egal sei und ob mir mein Bruder eigentlich auch egal sei. Sie redet sich richtig in Rage. Nachdem sie mir zehn Minuten lang sinngemäß mitgeteilt hat, dass ich mindestens die schlechteste Tochter der Welt sei und obendrein, was das Engagement für meine Familie angeht, auch noch eine einzige Enttäuschung, legt sie einfach auf. Auch wenn ich mich wirklich weniger habe zu Hause blicken lassen als sonst, sind ihre Vorwürfe unfair. Ich bin immer noch überdurchschnittlich oft zu Hause, wenn ich mich da mit anderen aus meinem Bekanntenkreis vergleiche. Und außerdem bin ich einundzwanzig Jahre alt. Ich studiere, ich habe einen Job und einen Freund. Wo soll ich all die Zeit denn hernehmen? Ich habe jetzt schon das Gefühl, nichts und niemandem mehr wirklich gerecht werden zu können.
Und weil heute sowieso nicht mein Tag ist, setze ich mich auf die Treppe vor der Bibliothek und fange an zu weinen. Ich habe keine Ahnung, wie lang ich hier sitze, als sich irgendwann eine Hand auf meine Schulter legt.
„Hope, was ist los?“, sagt eine vertraute Stimme besorgt und dann finde ich mich in einer warmen, tröstenden Umarmung wieder.
„John …“ Eine Weile schluchze ich vor mich hin, dann beruhige ich mich langsam und krame in meiner Manteltasche nach einem Taschentuch.
„Ist irgendetwas Schlimmes passiert?“ Voller Sorge sieht er mich an und wischt die letzte Träne weg, die mir über meine Wange
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