Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
Aufmerksamkeit erregt hätte.
»Stehst du Schmiere, Nate?« Ich reichte einen der oberen Kartons an Dune weiter und nahm mir selbst einen vor.
»Warum soll ich Schmiere stehen, wenn ich die Dinger zehnmal schneller durchforsten kann als ihr?«, fragte Nate.
»Ein gutes Argument.« Ich hielt ihm meine Kiste unter die Nase und ließ sie los, woraufhin sie ihm durch die Finger rutschte, mit dumpfem Knall auf dem Boden landete und eine Staubwolke aufwirbelte.
»Nate, kannst du nicht …«
»Ach du heilige Scheiße!« Nates Stimme klang schrill. Entgeistert deutete er aufs Fenster.
Etwa hundert junge Männer mit Talaren und Doktorhüten saßen in Reihen aus weißen Plastikstühlen in der Mitte des Hofs und blickten gebannt auf die Bühne, die vor ihnen aufgebaut war. Das welke Gras und die abgefallenen Blätter, die zwei Minuten zuvor noch den Boden bedeckt hatten, waren verschwunden und durch einen üppig grünen, sommerlichen Rasenteppich ersetzt worden.
Auf dem Podium führte ein distinguierter Herr mit Doktorhut und Talar durch die Feierstunde. Hinter ihm war auf einem Banner zu lesen: » GRATULATION , JAHRGANG 1948«.
»Bitte sagt mir, dass ihr dasselbe seht wie ich«, murmelte Nate.
»Ich seh’s«, erwiderte Dune und stellte den Karton ab. »Da sind keine Mädchen. Wo sind die Frauen?«
Ich betrachtete die Szene ein bisschen genauer. Die Bruchsteinfassaden der Gebäude zeigten viel weniger Moosbewuchs als zuvor, der Kunstpavillon fehlte komplett. »Bis zu den Fünfzigern war das hier ein reines Männercollege.«
»Dann ist das also ein Zeitriss«, sagte Nate. »Aus den Jahren davor.«
Plötzlich hörten wir hinter uns ein krachendes Geräusch, auf das ein unterdrückter Schrei folgte.
Nate und ich drehten uns um und sahen Dune am Boden liegen, wo er mit dem umgekippten Skelett zu kämpfen hatte.
»Das Ding ist sicher aus Plastik«, sagte Dune und hielt Nate ein Schienbein entgegen, an dem noch der Fuß baumelte, »aber ich will es trotzdem nicht auf mir liegen haben.«
Nate benutzte den Mittelfußknochen, um sich damit den Rücken zu kratzen und kicherte.
Ich unterbrach die Albereien der beiden. »Schaut euch mal um, Jungs.«
Mein ernster Tonfall und die veränderte Umgebung setzten dem Gelächter der beiden ein jähes Ende.
Der Aktenraum hatte sich in einen Seminarraum verwandelt. Die Tische standen in ordentlichen Reihen, die Tafel war mit Gleichungen vollgekritzelt. Die einzige Gemeinsamkeit, die der Raum mit dem hatte, den wir vor fünf Minuten betreten hatten, war das Skelett, in dessen Knochen Dune sich verheddert hatte.
»Wo sind wir?« Nate berührte ein paar Tische mit seiner freien Hand. »Ist das ein Zeitriss? Aber ich halte immer noch dieses Schienbein in der Hand. Das ist nicht normal. Stimmt’s?«
»Halt die Klappe«, zischte ich. »Da kommt jemand.«
Die Tür des Seminarraums öffnete sich langsam. Eine zierliche Frau mit einem Wischmopp in der Hand streckte den Kopf durch den Spalt und schaute sich um, bis ihr Blick auf den Schienbeinknochen fiel.
»Tut mir leid«, sagte Nate und wedelte mit dem Knochen. »Es war ein Unfall. Wir … wir sind Besucher … aus einem anderen Bundesstaat.«
Ich stöhnte. Das hier würde kein gutes Ende nehmen.
Die Frau schien ihn weder zu sehen noch zu hören, doch ihren Blicken nach zu schließen sah sie den Schienbeinknochen. Nach der Art, wie sie den Wischmopp fallen ließ und sich die Hand vor den Mund hielt, muss es auf sie gewirkt haben, als würde der Knochen sich wie von Geisterhand bewegen. Bevor sie wegrennen konnte, eilte ich durch den Raum und tippte ihr auf die Schulter.
Die staubigen Aktenkartons tauchten wieder auf, und ich hörte Dune und Nate im Chor nach Luft schnappen.
Das Skelett hing wieder aufrecht am Haken, ein wenig vergilbter als ein paar Sekunden zuvor während des Zeitrisses aus der Vergangenheit. Ihm fehlte der linke Schienbeinknochen.
Genau der Knochen, den Nate noch immer in der Hand hielt. Er sah nagelneu aus.
16. KAPITEL
K önnen wir das noch einmal … rekapitulieren?« Em saß auf meinem Bett und sah Dune, Nate und mich an. »Erstens, Lily hat euch erklärt, dass wir herausfinden müssen, was Jacks letztendliches Ziel ist, damit wir wissen, wo wir ihn suchen sollen.«
Ich nickte.
»Zweitens«, fuhr sie fort und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Dune, »du hast im Internet recherchiert, aber keinerlei Informationen in irgendeiner Datenbank gefunden.«
Dune nickte.
»Und drittens.« Em atmete ein paar Mal
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