Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
sind noch da.« Sie schwatzten drauflos, bewunderten die Skyline von Memphis und die reflektierende Oberfläche der Pyramide. »Anscheinend nehmen sie keine Notiz von den Zeitlosen.«
Die Zeitlosen, die auf den vollen Platz vorgedrungen waren, gesellten sich zu den Lebenden. Sie teilten denselben Luftraum, möglicherweise sogar denselben Zellraum.
»Statt einer ganzen Szene haben wir jetzt also eine ganze Menschenmenge. Das ist abgefahren«, keuchte ich. Körperteile schienen durcheinanderzugeraten, und Gesichtszüge verschwammen wie auf unscharfen Fotos, als die Lebendigen sich unter die Toten mischten. »Total abgefahren.«
Lilys Finger schlossen sich fester um meinen Arm. Ich wusste nicht, wie es sich anfühlte, wenn ein Zeitloser durch mich hindurchgehen würde, aber ich war auch ganz und gar nicht scharf darauf, es herauszufinden.
Ein Ehepaar und zwei kleine Jungs blieben neben uns stehen und posierten für ein Familienfoto. Eine ältere Frau mit einer Kamera zählte bis drei. Das Ganze wirkte wie eine harmlose Urlaubsszene, wenn man von dem Mann absah, der neben ihnen stand.
Obwohl neben das falsche Wort war. Denn der Mann stand mit einem Bein im Körper des Vaters und mit dem anderen in dem der Mutter. Den Arm hatte er durch den Hals des jüngeren Sohns geschoben.
»Das ist zu viel. Mir wird gleich schlecht.« Lily schloss die Augen und wandte sich ab, um die kühle Brise einzuatmen, die vom Fluss herüberwehte.
»Bleib, wo du bist, und lass die Augen zu. Ich bring das hier wieder in Ordnung.« Als die Familie mit dem Fotografieren fertig war, drehten sich alle um und machten sich auf den Weg zum Parkplatz. Ich eilte hinüber, um dem Mann auf die Schulter zu tippen, damit er verschwand.
Erschrocken zuckte er zusammen. »Kann ich Ihnen helfen?«
Nicht der Mann, sondern die Familie hatte zu den Zeitlosen gehört. Ihre Trikots der hiesigen Basketballmannschaft hätten mich stutzig machen sollen. »Bitte entschuldigen Sie vielmals. Ich habe Sie mit jemandem verwechselt.«
»Kaleb?« Lily wartete auf eine Erklärung.
»Mein Fehler. Ist schon okay.« Ich blieb neben ihr und warf einen prüfenden Blick in die Menge, auf der Suche nach jemandem, der offensichtlich fehl am Platze war. »Die Zeitlosen sehen uns nicht. Deshalb dürfte es nicht allzu schwierig sein, einen zu finden.«
»So wie eben?«
Zweifel. Furcht. Aufsteigende Panik.
»Ich wette, sie ist eine Zeitlose.« Ich zeigte auf eine Frau, die weiße Reebok-Turnschuhe mit pinkfarbenen fluoreszierenden Schnürsenkeln trug. »Ma’am?«, rief ich ihr zu.
»Ja?«, fragte sie.
Ich hatte keine Antwort erwartet. »Äh, tolle Schuhe!«
Sie musterte mich argwöhnisch und eilte davon.
»Ich wusste gar nicht, dass die Dinger noch auf dem Markt sind«, sagte Lily. Sie hatte die Hand über den Skroll gelegt, um losrennen zu können.
Ein mulmiges Gefühl überkam mich, doch ich schluckte es herunter. Ich wollte Lily nichts davon sagen, aber ich fürchtete langsam, dass unsere Verbindung zur Schar der Zeitlosen stärker werden könnte als die zur Realität. Auch ich wäre am liebsten weggerannt. Wenn ich nur gewusst hätte, wohin.
»Neuer Versuch.« Ein junges Mädchen in einem ausgefransten Sweatshirt war meine nächste Testperson. Unter dem Sweatshirt konnte ich ein glänzendes Elastiktop erkennen. Ich sprach sie nicht an, sondern stellte mich einfach vor sie hin und streckte ihr die Hand entgegen. Sie marschierte unbeirrt weiter, aber bevor sie meinen Körper erreichte, hatte sie sich längst aufgelöst.
»Gott sei Dank«, seufzte Lily.
»Wir müssen auf der Hut bleiben.«
Poe und Teague waren neben die Ramses-Statue getreten und blickten suchend in die Menge.
»Lauf!«
25. KAPITEL
W ir sind alles andere als unauffällig«, keuchte Lily, als wir durch die Menge stürmten.
»Hör auf zu rennen, aber geh zügig weiter.«
»Okay.«
Wir steuerten die Mud-Island-Schwebebahn und den Fluss an und mussten uns zwischen den parkenden Autos hindurchschlängeln. Einige Pflastersteine waren uneben. »Sei vorsichtig.«
»Ich sollte das Ding wohl besser schützen.« Sie löste die verknoteten Ärmel meines Hemdes und wickelte den Skroll damit ein. »O nein! Duck dich!«
»Was …«
»Duck dich! Poes Stiefel.«
Sie versteckte sich hinter einem Honda Accord und schob den eingewickelten Skroll unter das Fahrzeug. Dann packte sie meinen Arm und riss mich herunter, so dass ich auf ihrem Körper landete.
Wenn so etwas im Film passiert, folgt meistens ein
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