Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
schmeiß ich dich wieder raus.«
»Hey, meine Mama hat mich zu einem Gentleman erzogen, und so benehme ich mich auch.«
Sie griff nach meiner Hand. »Ich glaube, du hast das Wort ›meistens‹ vergessen.«
Im Schlafzimmer sah ich ein aufgeschlagenes Buch auf dem Tisch liegen. Auf dem abgewetzten Buchrücken hatte Lily ihre winzige Lesebrille abgelegt. Sie setzte sich aufs Bett, und da der einzige Stuhl ihr offenbar als Kofferablage diente, ließ ich mich auf dem Fußboden nieder. Sie lehnte sich ans Kopfbrett und verschränkte die Beine zum Schneidersitz. Ihr Schlafanzug war mit winzigen bunten Törtchen bedruckt.
Aufgrund meiner einschlägigen Erfahrungen hätte ich mich mit einem Mädchen im Schlafzimmer wohlfühlen müssen, aber Lily erwartete von mir, etwas zu sagen , statt etwas zu tun .
»Tut mir leid.« Ich atmete geräuschvoll aus. »Wegen vorhin. Dass du all das mit anhören musstest. Ich habe mich wie ein Idiot aufgeführt.«
»Ihr habt euch alle drei ziemlich idiotisch benommen«, stellte sie trocken fest. »Aber es gibt mildernde Umstände, denn diese Art von Trauma kann verschüttete Dinge ans Licht bringen.«
»Willst du damit sagen, dass du mich wegen meines schlechten Benehmens nicht mehr in die Mangel nehmen wirst?« Lily hatte meine sarkastischen Sticheleien nicht verdient, ich konnte sie mir jedoch nicht verkneifen.
Sie zuckte die Achseln. »Ich wollte dich gar nicht in die Mangel nehmen. Aber ich habe eine Frage. Glaubst du wirklich, dass alles, was passiert ist, deine Schuld war?«
»Du kommst immer gleich zur Sache, nicht wahr«, erwiderte ich hin- und hergerissen zwischen Verärgerung und Ehrfurcht. »Du redest nicht lange um den heißen Brei.«
»Ich will keine Zeit verschwenden.« Sie musterte mich streng. »Und versuch bloß nicht, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Hier geht es um dich.«
Ich bemühte mich, meine Emotionen zu besänftigen, um ihre Gefühle zu spüren. Neugier. Wahres, tiefes Mitgefühl. Sie versuchte, die Dinge mit meinen Augen zu sehen, was außer meinen nächsten Verwandten noch niemand getan hatte. »Ich weiß, es ist irrational, aber es ist so. Ich habe wirklich das Gefühl, als sei ich schuld an fast allem, was passiert ist.«
Lily nickte und dachte kurz nach. »Deshalb hast du Emerson auch angeboten, ihr den Schmerz zu nehmen. Du hast dich verantwortlich gefühlt. Gehört es auch zu deinen Fähigkeiten, die Gefühle von anderen auf dich zu nehmen?«
Sie kannte die Antwort bereits. »Em hat es dir erzählt.«
»Eigentlich hast du es selbst erzählt. Sie hat mich eingeweiht, aber nur weil ich euer Gespräch mit angehört und sie direkt danach gefragt habe.«
»Ich mache das nicht sehr oft«, erklärte ich zögernd.
»Em hat gesagt, dass du den Leuten nur die schmerzlichen Emotionen abnimmst.« Sie schaute zu dem Buch auf ihrem Nachttisch. Grimms Märchen. »Ich nehme an, es bleibt nicht ohne Folgen. Magie hat immer ihren Preis.«
»Gefühle von anderen zu übernehmen ist keine Magie.«
»Was ist es dann?« Sie rutschte bis zur Bettkante vor.
»Nun ja …« Ich suchte nach der richtigen Erklärung. »Ohne Erlaubnis ist es ein gewaltsamer Übergriff.«
»Aber du tust doch nichts Böses. Du nimmst Leuten die Schmerzen mit der Absicht, zu helfen und zu heilen. Das ist doch die beste Art von Magie, die es gibt.«
»Mach mich nicht zu einem Heiligen, Lily. Denn das bin ich nicht.«
»Aber du bist nicht wie Jack.«
Ihre Bemerkung ging mir durch Mark und Bein. »Ich habe nie gesagt, dass ich wie Jack bin.«
»Aber du glaubst es. Es ist die nächste logische Schlussfolgerung, wenn man eure Fähigkeiten vergleicht«, fuhr sie fort. »Erinnerungen und Gefühle hängen eng zusammen. Die Emotionen, die man mit einer Situation verbindet, beeinflussen unsere Erinnerung. Darüber gibt es sogar Studien.«
»Die du rein zufällig gelesen hast?«
»Nein. Ich hab’s im Internet nachgesehen.« Lily deutete auf ihren aufgeklappten Laptop. Auf dem Bildschirm war ein Foto, das sie ein paar Stunden zuvor gemacht haben musste. Es zeigte Ems Hinterkopf, den Lily schon zur Hälfte wegretuschiert hatte, und mich mit einem schiefen Lächeln im Gesicht.
»Schönes Bild.«
»Ja.« Sie errötete ein wenig und rutschte zum Schreibtisch rüber, um den Laptop zuzuklappen. »Netter Schnappschuss. Du … äh … du hast ein schönes Lächeln. Wenn du es mal aus der Versenkung holst und es ein bisschen abstaubst.«
»Em und ich haben über dich gesprochen. Wie talentiert du
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