Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
sich auf der Kochinsel befand.
Mitten auf der Arbeitsplatte stand ein Karton mit dem Crown-Royal-Label, vom Spot der Küchenlampe in Szene gesetzt wie von einem Scheinwerfer. Ich stellte die Backzutaten ab und griff nach dem Karton. Nigelnagelneu. Als ich ihn aufriss, sah ich, dass das Siegel der Flasche noch ungebrochen war.
Wir starrten uns an, die Flasche und ich. Natürlich musste ich als Erster zwinkern.
Entschlossen schraubte ich den Deckel auf.
Schnüffelte.
Holte ein Glas aus dem Schrank.
Es gab so viele Dinge, vor denen ich weglaufen wollte.
Doch dann fiel mir jemand ein, dem sehr gelegen daran war, dass ich vor ihnen davonlief: Jack .
Da wurde mir klar, wer die Flasche hingestellt hatte.
Ich dachte an meinen Dad und all die Dinge, die er mir schließlich anvertraut hatte. An Michael und die Übereinkunft, die wir getroffen hatten.
Und dann hatte ich Lilys Stimme im Ohr. »Ich will dich nur daran erinnern, dass du mehr wert bist als das, was nach ein paar Flaschen von dir übrig bleibt.«
Ich stellte das Glas zurück in den Schrank und kippte den Schnaps in den Ausguss.
»Ich habe manchmal Zweifel an deiner Zurechnungsfähigkeit, Ballard, aber ich weiß, dass du kein Idiot bist.«
»Danke für das Kompliment, Shorty.«
Ich lag auf der Wohnzimmercouch und balancierte einen Keksteller auf der Brust. Emerson hatte sich drohend vor mir aufgebaut und wirkte in ihrer Murphy’s-Law-Arbeitskluft wie ein kleiner General.
»Du hast irgendein hergelaufenes Mädchen geküsst? Am hellen Nachmittag? Mitten auf dem Gehweg?«
»Es war nicht so, wie es aussah.«
»Das habe ich schon öfter gehört, vielleicht hab ich es sogar selbst schon mal gesagt, aber nur in Fällen, bei denen es tatsächlich nicht so gewesen ist, wie es aussah. Ich höre.« Sie hob meine Beine hoch, ließ sich auf die Couch fallen und legte meine Füße auf ihren Schoß. »Was hast du gemacht?«
Ich versuchte erst gar nicht, mich zu verteidigen. »Dieses Mädchen steht plötzlich vor mir, schreibt mir ihre Nummer auf die Hand und gibt mir einen Kuss. Ja, mitten auf dem Gehweg und am hellen Nachmittag.«
»Und jetzt werden wir diskutieren, warum das ein Problem ist.«
»Weil es genau in dem Augenblick passiert ist, als Lily aus dem Murphy’s Law spaziert kam.«
»Und das ist ein Problem für dich, weil?«
»Du leitest die Zeugenaussage.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Ich seufzte. »Es macht mir Sorgen, weil ich sie gernhab.«
»Wie gern denn?« Sie klang wie ein siebenjähriges Mädchen, das sich in der großen Pause unter der Rutsche versteckt hat.
»Sehr gern, wenn du’s genau wissen willst!«
Sie grinste von einem Ohr zum andern und stibitzte sich einen von meinen Chocolate-Chip-Keksen. »Also wer war denn nun das Mädchen?«
»Es war die, mit der ich an dem Abend zusammen war, bevor wir beide uns kennen gelernt haben. Als Michael mich nach Hause geschleift hat. Ich wusste nicht mal mehr ihren Namen.«
»Dass du ihren Namen vergessen hast, macht die Sache nicht besser. Wieso bist du nicht sofort zu Lily gegangen und hast ihr alles erklärt? Jetzt ist schon Nachmittag. Wieso hast du nicht längst versucht, mit ihr zu sprechen?«, fragte sie. »Wieso ignorierst du sie?«
»Ich ignoriere sie nicht. Autsch!« Sie zupfte an meinen Beinhaaren herum, und ich bekam mal wieder zu spüren, dass geringe Körpergröße und Angriffslust eine äußerst explosive Mischung sein konnten.
Besonders wenn es um die beste Freundin ging.
»Ich habe sie nicht ignoriert. Ich bin ihr aus dem Weg gegangen, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Hat sie dir was erzählt?«
»Du willst wissen, was sie über dich gesagt hat?«, meinte sie verschwörerisch.
»Emerson!«
Sie setzte sich auf. »Na schön. Wie ich es verstanden habe, habt ihr zwei euch über Gefühle unterhalten, und am Ende wollte sie dich beißen?« Sie zog fragend die Brauen hoch, und ich nickte. »Uff! Kein Wunder, dass es sie verletzt hat, als sie dich mit diesem Mädchen auf der Straße gesehen hat.«
»Es hat sie verletzt?«
»Was glaubst du denn, warum sie so wütend war?«, fragte sie entgeistert.
»Ich versteh nicht recht, wie so etwas läuft.«
»Ich liebe euch beide. Das weißt du«, sagte Em. Ich nickte, und ihr Tonfall wurde ein bisschen sanfter. »Eines habe ich aus dieser grässlichen Geschichte mit Jack gelernt«, fuhr sie fort. »Irgendwo anders als im Hier und Jetzt zu leben ist ein Fehler. Wie Michael immer sagt, ist die Zukunft
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