Die Versuchung
redest mit niemandem, Alicia. Hast du das kapiert?« wiederholte er ganz langsam.
Sie schaute ihm in die Augen und erschauerte bis ins Innerste ihrer Seele. Zum erstenmal, seit der Streit begonnen hatte, spürte sie schreckliche, riesige Angst. Ihre Wut war verflogen. Plötzlich kannte sie den Jungen nicht mehr, mit dem sie einst glücklich herumgetollt hatte, von dessen Reife und Intelligenz sie fasziniert gewesen war. Der Mann, der ihr nun in die Augen starrte, war nicht ihr Bruder. Dieses Wesen besaß keine menschlichen Züge.
Blitzschnell wechselte sie die Taktik und sagte so ruhig sie konnte: »Ja, Peter, ich habe verstanden. Ich … ich packe gleich heute abend.«
Auf Jacksons Gesicht stand eine so tiefe Verzweiflung, wie er sie seit vielen Jahren nicht empfunden hatte. Er hatte Alicias Gedanken und Ängste gelesen. Sie standen überdeutlich auf dem dünnen Pergament ihrer weichen Züge. Seine Finger krampften sich um das große Kissen, das auf dem Sofa zwischen ihnen lag.
»Wohin möchtest du fahren, Alicia?«
»Irgendwohin, Peter. Wohin du willst. Neuseeland. Du hast von Neuseeland gesprochen. Das wäre wundervoll.«
»Es ist ein herrliches Land. Oder Österreich, wie ich schon sagte. Damals hat es uns doch gut gefallen, oder?« Er packte das Kissen noch fester. »Oder?« wiederholte er.
»Ja, es war wirklich schön.« Alicia verfolgte jede seiner Bewegungen. Sie wollte schlucken, doch ihre Kehle war pulvertrocken. »Vielleicht … könnte ich erst nach Österreich … und dann nach Neuseeland fliegen.«
»Und kein Wort zur Polizei? Versprichst du das?« Er hob das Kissen.
Ihr Kinn zitterte unkontrolliert, als das Kissen sich ihrem Gesicht näherte. »Peter. Peter. Bitte, nicht!«
Er sprach sehr präzise und überlegt. »Ich heiße Jackson, Alicia. Einen Peter Crane gibt es hier nicht.«
Urplötzlich stieß er sie aufs Sofa und preßte ihr das Kissen aufs Gesicht. Sie wehrte sich verzweifelt. Sie kratzte, stieß um sich, wand sich, doch sie war so klein und schwach. Er spürte kaum, wie sie ums Überleben kämpfte. Viele Jahre lang hatte er versucht, seinen Körper so hart wie Fels zu machen. Alicia dagegen hatte diese Zeit mit Warten verbracht – dem Warten darauf, daß ein Abbild ihres Vaters, strahlend wie ein Ritter, in ihr Leben trat. Und dabei waren ihre Muskeln und ihr Verstand verweichlicht.
Es war rasch vorbei. Vor Jacksons Augen wurden die heftigen Bewegungen seiner Schwester schwächer und endeten schließlich ganz. Ihr blasser rechter Arm baumelte schlaff über die Kante des Sofas. Er nahm das Kissen weg und zwang sich, seine Schwester anzuschauen. Das zumindest war er ihr schuldig. Ihr Mund stand leicht offen, die Augen waren aufgerissen und leer. Rasch streifte er die Lider über die starren Pupillen, setzte sich zu der Toten und tätschelte zärtlich ihre Hand. Er kämpfte nicht gegen die Tränen. Es hätte nichts genützt. Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern, wann er das letzte Mal geweint hatte, doch es gelang ihm nicht.
Schließlich verschränkte er ihre Arme über der Brust; dann aber gefiel es ihm besser, sie über die Taille zu legen. Behutsam hob er ihre Beine aufs Sofa und legte ihr das Kissen, mit dem er sie getötet hatte, unter den Kopf. Dann breitete er ihre Haare über das Kissen aus. Er fand, daß sie wunderschön aussah, auch wenn sie so still und regungslos dalag. Sie war von einer Aura des Friedens umhüllt, von der tiefen und heiteren Ruhe eines Frühlingsmorgens, die ihn tröstete, als wäre das, was er gerade getan hatte, gar nicht so schlimm.
Er zögerte noch einen Moment. Dann prüfte er ihren Puls. Hätte sie noch gelebt, wäre er sofort aus dem Haus gestürmt und hätte das Land noch am selben Tag verlassen. Er hätte sie nicht noch einmal angerührt. Schließlich war sie seine Schwester. Sein Fleisch, sein Blut. Aber sie war tot. Er stand auf und schaute ein letztes Mal auf sie hinunter.
Es hätte nicht so enden müssen. Jetzt war der Nichtsnutz Roger der einzige Familienangehörige, den es noch gab. Eigentlich hätte dieser Versager dort liegen müssen, nicht seine geliebte Alicia. Doch Roger war die Mühe nicht wert.
Plötzlich richtete Jackson sich auf. Ihm war eine Idee gekommen. Vielleicht konnte Roger in seinem Stück eine Nebenrolle spielen. Ja, er würde seinen jüngeren Bruder anrufen und ihm ein Angebot machen. Er war sicher, daß Roger diesem Angebot nicht widerstehen konnte, weil Bargeld winkte – die stärkste Droge, die es
Weitere Kostenlose Bücher