Die Versuchung
und konnte mit dem Messer umgehen. LuAnns Gesicht würde den Beweis dieser Meisterschaft liefern, zumindest da, wo die Haut nicht von der Säure zerfressen war.
»Verdammt«, murmelte Shirley, als sie die Stufen hinaufstieg und ihr der Gestank entgegenschlug. Wieder blickte sie sich um. So einen Gestank hatte sie nicht mal auf der Mülldeponie erlebt, wo sie kurze Zeit gearbeitet hatte. Sie steckte das Messer in die Tasche und schraubte den Verschluß vom Kanister. Dann stellte sie ihn ab und band sich ein Taschentuch vor die Nase. Jetzt, wo sie so weit gegangen war, würde sie keinen Rückzieher mehr machen – Gestank oder nicht.
Leise betrat sie den Wohnwagen und schlich zum Schlafzimmer. Vorsichtig schob sie die Tür auf. Leer. Sie ging in die andere Richtung. Vielleicht schliefen LuAnn und ihr Verehrer auf der Couch. Im Gang war es dunkel. Shirley tastete sich an der Wand entlang. Je näher sie dem Wohnzimmer kam, desto größer wurde ihre Entschlossenheit. Doch als sie mit einem Satz ins Zimmer springen wollte, stolperte sie über irgend etwas und stürzte. Und dann lag Shirley der verwesenden Quelle des Gestanks von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Shirleys Schrei hätte man beinahe bis zur Hauptstraße hören können.
»Viel haben Sie wirklich nicht gekauft, LuAnn.« Charlie musterte die wenigen Tüten auf dem Sofa im Hotelzimmer.
LuAnn kam aus dem Bad, wo sie sich einen weißen Pullover und Jeans angezogen hatte. Ihre Haare waren zu einem Bauernzopf geflochten. »Ich hab’ mir alles nur angeschaut. Das war schön genug für mich. Aber mich hat’s fast umgehauen, als ich die Preise hier gesehen habe. Du meine Güte!«
»Aber ich hätte doch alles bezahlt«, protestierte Charlie. »Das habe ich Ihnen doch hundertmal gesagt.«
»Ich will nicht, daß Sie Geld für mich ausgeben, Charlie.«
Charlie setzte sich in einen Sessel und blickte sie an. »LuAnn, es ist nicht mein Geld. Das habe ich Ihnen doch gesagt. Das geht auf Spesen. Sie hätten nach Lust und Laune einkaufen können.«
»Hat Mr. Jackson das gesagt?«
»So in der Richtung. Sagen wir einfach, es ist ein Vorschuß auf Ihren baldigen Gewinn.« Er grinste.
LuAnn setzte sich auf die Couch und spielte mit den Händen. Ihre Miene war sehr besorgt. Lisa lag noch im Kinderwagen und spielte mit einigen Sachen, die Charlie ihr gekauft hatte. Ihr glückliches Glucksen erfüllte das Zimmer.
»Hier«, sagte Charlie und hielt LuAnn einen Stapel Fotos hin, die er tagsüber in New York gemacht hatte. »Für Ihr Erinnerungsalbum.«
LuAnn betrachte die Fotos und lächelte. »Ich hätte nie gedacht, daß ich in New York einen Wagen mit Pferden sehen würde. Hat echt Spaß gemacht, mit der Kutsche durch diesen großen alten Park zu fahren, der mitten zwischen all den Häusern liegt.«
»Jetzt sagen Sie bloß, Sie haben noch nie vom Central Park gehört.«
»Doch. Gehört schon. Aber ich hab’s für reine Phantasie gehalten.« LuAnn gab ihm einen Fotostreifen, den sie in einem Automaten gemacht hatte.
»Hoppla. Danke, daß Sie mich daran erinnern«, sagte Charlie.
»Sind die für meinen Paß?«
Er nickte und steckte die Bilder in die Jackentasche.
»Braucht Lisa keine?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie ist noch zu jung. Sie kann ohne Papiere bei Ihnen mitreisen.«
»Aha.«
»Wenn ich recht verstanden habe, wollen Sie Ihren Namen ändern.«
LuAnn legte die Fotos weg und öffnete eine Tüte. »Ja. Ich halte es für eine gute Idee. Ein neuer Anfang.«
»Jackson hat mir schon gesagt, daß Sie es so sehen. Na gut, wenn Sie’s so möchten.«
Plötzlich ließ LuAnn sich auf der Couch zurückfallen und schlug die Hände vors Gesicht.
Charlie blickte sie beunruhigt an. »Aber, aber, LuAnn. Den Namen zu ändern ist keine so schmerzhafte Sache. Worüber machen Sie sich Sorgen?«
Nach einer Pause schaute sie ihn an. »Sind Sie sicher, daß ich morgen in der Lotterie gewinne?«
»Warten wir’s einfach ab, LuAnn«, sagte er langsam, behutsam. »Aber ich glaube nicht, daß Sie enttäuscht werden.«
»So viel Geld. Aber ich habe kein gutes Gefühl dabei, Charlie. Ganz und gar nicht.«
Er steckte sich eine Zigarette an und rauchte, ohne LuAnn aus den Augen zu lassen. »Ich werde mal den Zimmerservice anrufen und uns etwas zu essen bestellen. Ein Menü mit drei Gängen und eine Flasche Wein. Hinterher gibt’s Kaffee und was Süßes. Alles vom Feinsten. Wenn Sie gegessen haben, fühlen Sie sich bestimmt besser.« Er schlug das Serviceheft des Hotels auf
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