Die Versuchung
»Was ist passiert?«
»Ich habe einige Zeit als Gast der Regierung der Vereinigten Staaten gelebt.« LuAnn schaute ihn neugierig an. Sie hatte die Anspielung nicht verstanden. »Ich war im Staatsgefängnis, LuAnn.«
Sie war verblüfft. »So sehen Sie gar nicht aus, Charlie.«
Er lachte. »Na, ich weiß nicht. Da sitzen die verschiedensten Typen ein, LuAnn, das kann ich Ihnen sagen.«
»Was haben Sie verbrochen?«
»Steuerflucht. Der Staatsanwalt hat es Betrug genannt. Und er hatte recht. Ich hatte einfach keine Lust mehr, Steuern zu zahlen. Irgendwie hat’s nie so richtig zum Leben gereicht, ganz zu schweigen davon, der Regierung noch eine Scheibe von meinem Geld abzugeben.« Er strich die Haare zurück. »Dieser kleine Schönheitsfehler hat mich drei Jahre und meine Ehe gekostet.«
»Das tut mir leid, Charlie.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich war’s das Beste, was mir je im Leben passiert ist. Ich war in einem ziemlich harmlosen Knast, zusammen mit einem Haufen Wirtschaftskrimineller. Da mußte ich nicht jede Minute aufpassen, daß mir einer den Hals umdrehte. Ich habe ’ne Menge Weiterbildungskurse besucht und zum erstenmal so richtig darüber nachgedacht, was ich mit meinem Leben eigentlich anfangen will. Eigentlich ist mir im Knast nur eine schlimme Sache passiert.« Er hielt die Zigarette hoch. »Ich habe nie geraucht, bis ich ins Gefängnis kam. Im Knast hat fast jeder geraucht. Als ich rauskam, habe ich aufgehört. Sogar ziemlich lange. Aber vor sechs Monaten hab’ ich wieder angefangen. Ach, was soll’s. Jedenfalls, nachdem ich entlassen war, habe ich für einen Rechtsanwalt gearbeitet – als eine Art Privatdetektiv. Der Anwalt wußte, daß ich ehrlich und zuverlässig war, auch wenn ich im Knast gesessen hatte. Und ich kannte eine Menge Leute, querbeet durch alle Gesellschaftsschichten. Hatte viele Verbindungen. Außerdem habe ich im Knast verdammt viel gelernt. Erstklassige Ausbildung. Ich hatte Professoren in jedem Fach, vom Versicherungsbetrug bis zur Urkundenfälschung. Das hat mir sehr geholfen, als ich in der Kanzlei anfing. War ein prima Job. Die Arbeit hat mir Spaß gemacht.«
»Wieso haben Sie dann aufgehört, um für Mr. Jackson zu arbeiten?«
Mit einem Mal machte Charlie einen unbehaglichen Eindruck. »Sagen wir einfach … Ich habe ihn zufällig eines Tages getroffen. Ich steckte ein bißchen in Schwierigkeiten. Nichts Ernstes, aber ich war noch auf Bewährung draußen. Die Sache hätte mir aber ein paar Jährchen eingebracht. Mr. Jackson hat mir seine Hilfe angeboten, und ich habe sein Angebot angenommen.«
»So ähnlich ging’s mir auch«, sagte LuAnn mit bitterem Unterton. »Man kann Mr. Jacksons Angebote nur sehr schwer ausschlagen.«
Charlie betrachtete sie plötzlich mißtrauisch. »Ja«, sagte er nur.
»Ich habe nie im Leben betrogen, Charlie«, brach es aus ihr heraus.
Charlie zog an der Zigarette und drückte sie aus. »Ich nehme an, das hängt immer vom Standpunkt des Betrachters ab.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, überlegen Sie doch mal. Menschen, die ansonsten brave Leute sind, ehrlich und fleißig, betrügen an jedem Tag ihres Lebens. Manche in großen Dingen, manche in kleinen. Die Leute frisieren ihre Steuererklärung oder bezahlen einfach keine Steuern, so wie ich. Oder sie geben das Geld nicht zurück, wenn jemand sich zu ihren Gunsten verrechnet hat. Jeder Mensch lügt jeden Tag ein kleines bißchen, ganz von selbst, irgendwann, irgendwie. Manchmal, um den Tag durchzustehen, ohne den Verstand zu verlieren. Und dann gibt’s den großen Betrug: Männer und Frauen haben ständig Affären. Auf dem Gebiet kenne ich mich verdammt gut aus. Ich glaube, meine Exfrau hat im Hauptfach Ehebruch studiert.«
»Davon kann ich auch ein Lied singen«, sagte LuAnn leise.
Charlie betrachtete sie. »Ihr Freund muß ein selten dämlicher Arsch sein. Na ja, im Laufe des Lebens kommt so einiges zusammen.«
»Aber keine fünfzig Millionen Dollar.«
»Vielleicht nicht in Dollar ausgedrückt, nein. Aber mir wäre ein großer Betrug im Leben lieber als tausend kleine, die einen mit der Zeit auffressen und dazu führen, daß man sich selbst nicht mehr leiden kann.«
LuAnn schlang die Arme um den Leib. Sie zitterte.
Charlie blickte sie stumm an. Dann widmete er sich wieder der Speisekarte. »Und jetzt bestelle ich das Essen. Mögen Sie Fisch?«
LuAnn nickte geistesabwesend und starrte auf ihre Schuhe, während Charlie telefonisch die Bestellung
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