Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
Innocents von Richie Havens gespielt. Tony und Rob suchten in meinem Gesicht nach einem Flaum, konnten aber nichts entdecken. Ich sagte: »Mein Bart wird im Dunkeln wachsen, so, wie Sterns’ darin grau wird.«
»Wie lange wird das dauem, he?« fragte Rob.
»Monate«, antwortete ich. »Vielleicht auch ein Jahr.«
Ich hatte Angst. Das ließ ich mir Rob und Tony gegenüber aber nicht anmerken. Ich hatte Angst, daß diese Veränderungen, die ich ihnen so fachmännisch beschrieb, nicht eintreten würden, daß ich wartete und beobachtete, mein Körper aber einfach so blieb, wie er war. Jeden Abend beim Ausziehen sah ich meinen Körper an. Ich war Mary. Zwar älter als damals, als ich meine Röcke in die Londoner Nacht hinauswarf. Älter als damals, als ich in Georgias Bett von Heal schlief. Aber noch immer Mary: rundes Gesicht, runde Brüste, rundum hassenswert in ihren eigenen Augen.
Doch gerade an dem Tag, an dem ich meine erste Testosteronspritze erhielt, bekam ich einen Brief von Cord. Er hatte die Straßenschlacht gewonnen.
»Martin«, schrieb er, »geh auf die Straße! Umarme den Zwiebelverkäufer oder den Straßenkehrer! Sag ihnen, daß sich die Stimme des kleinen Mannes (und der kleinen Frau, wenn ich es mir recht überlege) in diesem Land noch Gehör verschaffen kann. Sag ihnen, daß sich die Bürger von Gresham Tears nicht vertreiben ließen. Und nun sind unsere Sumpfwiesen in Sicherheit.«
Ich dachte: Dieser Brief an diesem Tag ist ein gutes Zeichen. Cord hat seinen Sieg davongetragen, das bedeutet, daß ich auch meinen haben werde.
Ich wartete. Ich bekam eine neue Substanz in die Adern gespritzt. Mein Verstand muß jetzt so rege sein wie der schnellende Fisch, dachte ich. Ich muß wachsam und lebendig sein. Doch alles, was ich fühlte, war panische Angst.
Dann kam der Tag, den ich herbeigesehnt hatte.
Pearl traf in London ein. Sie kam mit einem kleinen Koffer, um bei mir zu übernachten. In dem Koffer waren ein weißes Nachthemd, ein herzförmiger Kulturbeutel und ein Handbuch für Zahnarzthelferinnen . Sie breitete ihre Sachen auf dem Boden aus. Ich sagte: »Pearl, ich möchte, daß du in meinem Bett schläfst. Ich schlafe auf ein paar Kissen, und wirkönnen uns über Australien und den Nachthimmel unterhalten.«
Sie ist achtzehn, tuscht sich die Wimpern blau, hat ihr Haar zu Rattenschwänzen gebunden und spricht einen leichten Suffolker Dialekt. Sie umarmt mich, und ich erwidere ihre Umarmung, wobei ich mit den Tränen kämpfe.
Sie ist noch nie zuvor in London gewesen und sagt: »Mary, paß bitte auf, daß ich nicht verlorengehe, ja?«
Es ist Samstag. Die Sonne scheint auf die Abfälle der Earl’s Court Road. Wir gehen Arm in Arm in Richtung Natural History Museum die Straße hinunter. Pearl sieht sich alles so erstaunt an, als wäre sie auf dem Mond gelandet.
Im Museum schauen wir uns das Dinosaurierskelett Diplodocus carnegii aus Gips an. Ich werde bei so großen Dingen immer feierlich, doch Pearl sagt: »Waren sie nicht lächerlich? Eine Theorie ist, daß sie ausgestorben sind, weil sie alle erfroren sind.«
Ich bin noch nie in diesem Museum gewesen, und Pearl natürlich auch nicht. Sie ist es, die führt und erklärt. Hier ist überall Biologie. Pearls kleine Nase wird vor Aufregung ganz rot. Für sie müßte der Himmel voller fliegender Frösche und Milchkrautschmetterlinge sein.
All das, was wir an diesem einen Nachmittag lernen, macht mir deutlich, daß wir auf einem Planeten voller Überraschungen leben. Ich weiß nun, daß ein Tausendfüßler relativ schneller als ein Gepard läuft. Ich weiß, daß es in Peru eine Schlange gibt, die Kühe melkt. Ich weiß, daß der Riesenmammutbaum in Kalifornien ein Alter von fünfzehnhundert Jahren erreichen kann. Ich weiß, daß die Kreuzkröte und der Limonenbaum vor zehntausend Jahren in England auftauchten. Ich weiß, daß etwas, das man für ausgestorben hielt, plötzlich wieder auftreten kann, und daß ein berühmter Biologe in seinem Laboratorium vor Überraschung sterben kann. Ich weiß, daß eine Spezies in Bananenkisten oder Gummiballen versteckt die Weltmeere überqueren kann, wie zum Beispiel ein Laubfrosch aus den Regenwäldern von Honduras, dersich in einem Wald in der Nähe von Canterbury angesiedelt hat.
Ich sage zu Pearl: »All dies macht mir Hoffnung.«
»Hoffnung worauf?«
Sie trägt einen kurzen rosa Rock, weiße Kniestrümpfe und weiße Schuhe mit einem rosa Knopf. Die anderen Museumsbesucher starren sie im Vorbeigehen
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