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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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einem freundlichen Wesen sind im Umgang mit ängstlichen Patienten unbedingt erforderlich. Die Zahnarzthelferin verliert im Idealfall nie die Nerven und wird mit jedem denkbaren Notfall fertig...«
    Nach einer Weile lösche ich das Licht.
    Wir liegen im Dunkeln in meinem Narrenschiff. Unten im Lichtschacht hören wir jemanden schreien.
    Ich lasse die Zeit verrinnen. Mein Herz pocht.
    Dann erzähle ich Pearl aus meinem Leben – vom Tag der beiden Schweigeminuten, von meiner Eifersucht auf Timmy und meinem Haß auf Mary. Ich erzähle ihr von Dr. Beales, dem schmutzigen Fluß und den Lügen. Lindsey Stevens undmeine Affäre mit Georgia lasse ich aus. Ich gehe dazu über, meinen Verbündeten Sterns zu beschreiben, seinen Mörder Axolotl und seine ruhige Stimme. Schließlich sage ich: »Mit den Spritzen, die ich jetzt bekomme, wird mein Leben als Mary zu Ende gehen.«
    Pearl ist so still, daß ich mich frage, ob sie noch da ist oder ob ich vielleicht alles einem leeren Zimmer erzähle.
    Dann höre ich sie weinen.
    »He, Pearl«, sage ich, »das ist nicht merkwürdiger als Millionen andere Dinge auf dieser Welt. Bitte verachte mich deswegen nicht. Du verachtest doch auch nicht einen Baum, weil er fünfzehnhundert Jahre alt wird, oder einen Baumfrosch, weil er in Kent aufgetaucht ist. Das sind nur Launen des Schicksals, und hier geht es darum, was ich bin und immer war.«
    Sie schweigt und weint einfach weiter.
    »Pearl, sag doch etwas!«
    »Ich kann nicht. Ich bin so traurig.«
    »Hör zu. Ich verstehe, wenn du mich nicht wiedersehen willst. Du fühlst dich wahrscheinlich abgestoßen. Doch auch dann, wenn ich dich nie wiedersehe, wenn wir nie wieder zusammen griechisch essen gehen und nie wieder Montgolfier erwähnen, wirst du doch immer kostbar für mich sein – mein kostbares Ding. Daran wird sich nichts ändern.«
    »Das ist es ja nicht«, sagt sie.
    »Das ist es nicht?«
    »Ich meine, daß ich mich abgestoßen fühle. Nicht richtig. Es ist nur so, daß...«
    »Ja?«
    »Es war Mary, die mir so viel bedeutet hat. Und du bringst sie um.«
    »Ich weiß. Ich kann aber nicht anders, Pearl. Selbst dir zuliebe nicht.«
    Wir sprechen die ganze Nacht darüber. Pearl sagt, sie habe zuviel Angst, um schlafen zu können. Die Welt mache ihr angst.
    Am nächsten Tag fährt Pearl nach Hause. Ihre weißen Schuhe sehen abgewetzt aus. Sie hat keine blaue Tusche auf den Wimpern. Und als ich sie im Zuggang auf die Wange küsse, wendet sie sich ab und sagt: »Es ist so traurig, Mary.« Sie dreht sich nicht noch einmal nach mir um.
Blick nach Westen
    Zwei Frauen saßen allein in ihren Häusern und dachten über ihre Zukunft nach. Die eine war Margaret Blakey, die andere Margaret McRae.
    Seit Gilbert fortgegangen war, war der Abstand zwischen Margaret Blakeys Haus und den Felsen von Minsmere fast einen Meter kleiner geworden. Die Winter waren streng gewesen, und die Hurrikane waren immer näher gerückt. Margaret Blakey hatte im National Geographic Magazine gelesen, daß überall auf der Welt Festland ins Meer stürzte.
    Es machte ihr jedoch nichts mehr aus. Da Gilbert nicht mehr da war, schien es ohne Bedeutung zu sein. Manchmal dachte sie, daß es ihr durchaus willkommen wäre, mitten in der Nacht davongeblasen zu werden. Sie stellte sich sogar vor, wie sich das Haus im Sturm neigte und in Bewegung geriet, wie der Sandstein wie Kuchen zerkrümelte, die Fotografien von Gilbert von den Wänden fielen und zerschellten und ihr Bett davonflog.
    Gilbert schrieb ihr jede Woche. Er verdiente gut. Er schickte ihr seltsame Geschenke: eine afrikanische Maske, eine Sprungfeder, die man sich zuwarf, und ein Geschirrtuch, auf das Hampton Court gedruckt war. In einem seiner Briefe stand: »Näher als in der Flood Street kann ich dem Paradies wohl kaum kommen.« Auch das fand sie recht merkwürdig. Sie konnte nur annehmen, daß an die Stelle des Gilbert, den sie gekannt hatte, ein anderer getreten war. Und dieser schien auch in einer neuen Welt zu leben, einer Welt, in der es den LeutenFreude machte, ihre Zeit mit dem Sichzuwerfen einer Sprungfeder zu verbringen. Es war offensichtlich, daß er diese neue Welt der alten vorzog. Irgendwie war es ja auch verständlich. Er war noch jung und hatte es satt, an einem Abgrund zu leben.
    Margaret Blakey faßte den Entschluß, den Abstand zwischen ihrem Haus und dem Felsenrand nicht mehr zu messen. Sie ging sogar noch einen Schritt weiter. Sie zog aus ihrem vorn gelegenen Schlafzimmer in ein Zimmer auf der

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