Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
Rückseite des Hauses, von wo aus sie das Meer nicht sehen konnte. Jetzt blickte sie über Felder und auf einen Wald, hinter dem ein Kirchturm aufragte. Ihr gefiel diese Landschaft. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sich das übrige England hinter dem Kirchturm ausdehnte. Immer weiter, ohne Ende.
Zu ihren wenigen Freunden sagte sie: »Ich glaube, wenn man älter wird, sollte man gewissen Dingen den Rücken kehren.«
Miss McRae machte Pläne.
Ihr Häuschen stand zum Verkauf. Sie hatte nun doch ihrem Heimweh nach Schottland nachgegeben und wollte in die Nähe von Oban zu ihrer Schwester Dorothy ziehen. Auf Miss McRaes Kamin stand ein Schnappschuß von Dorothys Bungalow Shepherd’s Rest. Er hatte einen Garten mit Tagetes und drahtgeschützten Obstbäumen. Vom Haus aus blickte man auf Seal Sound, wo sich bei Ebbe ganze Muschelkolonien anklammerten. Man konnte auf der kleinen Terrasse sitzen und beobachten, wie die Sonne hinter Seal Island unterging. Und in der Nacht war in der Ferne das Blitzen des Leuchtturms von Oban zu sehen.
Sie war siebenundsiebzig, dachte aber nur selten an den Tod, sondern vielmehr an Spaziergänge, die sie mit ihrer Schwester machen wollte, durch die Wälder und über die Heide. Sie dachte an das Krächzen der Brachvögel und Möwen und den Geruch des Meeres. Nicht nur einmal sagte sie: »Ich habe ein glückliches Leben gehabt.«
Sie hatte ihr Häuschen in Swaithey für dreihundert englische Pfund gekauft. Die Grundstücksmakler erklärten ihr, daß es jetzt siebentausend wert sei.
Ein junges Paar aus London sagte, es habe sich in das Haus verliebt. Sie einigten sich auf sechstausendfünfhundert Pfund. Miss McRae nahm ihr Strickzeug zur Hand und dachte über das viele Geld nach. Sie wußte, daß sie und Dorothy ein einfaches Leben führen würden. Sie würden Eintöpfe kochen und mehrere Tage davon essen. Sie würden ihr eigenes Gemüse anbauen. Sie selbst würde für sie beide Pullover und Handschuhe stricken. Shepherd’s Rest war ein kleines Haus, so daß sie nicht viel fürs Licht ausgeben würden, und geheizt wurde mit Nachtstrom.
Sie legte ihr Strickzeug wieder beiseite, setzte sich an den Schreibtisch und griff nach ihrem Füllfederhalter. Aus den Briefen anderer Leute ersah sie, daß Füller allmählich zu vorsintflutlichen Gegenständen wurden. Sie dachte: An der Westküste Schottlands ist die Kluft zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart nicht so groß wie in England.
Sie wollte an Mary schreiben. Dabei fiel ihr wieder ein, wie sie zusammen vor dem Elektroofen gesessen und König Lear laut gelesen hatten. Als eines Nachts ein Sturm über Swaithey hinweggefegt war, hatte Mary zu ihr gesagt: »Ich glaube an all das. Sie nicht auch, Miss McRae?«
»An was, meine Liebe?«
Lange und kurze Blitze hatten sich abgewechselt wie Schiffssignale.
»An Lear«, hatte Mary geantwortet. »Daß all das wirklich geschehen kann.«
Miss McRae setzte die Brille auf und schrieb:
Meine liebe Mary,
ich habe mich über Deinen letzten Brief und darüber, daß die Liberty nun auch in Adelaide verkauft wird, sehr gefreut.
Vielen Dank für Deine hübscbe Zeichnung von der Lambeth Bridge. Du zeichnest jetzt wirklich gut.
Wie Du schon aus meinem letzten Brief vom 2. August weißt, sind meine Pläne, nach Schottland zurückzukehren, weit fortgeschritten, und trotz der vielen Jahre, die ich in Swaithey verbracht habe, fällt es mir nicht schwer, von hier wegzugehen. Bin ich sentimental, wenn ich sage, ich glaube, daß einem der Ort, wo man geboren worden ist, für alle Zeiten am Herzen liegt?
Nun zum eigentlichen Grund meines Briefs. Ich habe das große Glück gehabt, mein Häuschen für sehr viel Geld an ein nettes junges Paar aus Putney zu verkaufen. Dorothy und ich werden im Shepherd’s Rest recht gut mit unseren Pensionen auskommen. (Du erinnerst Dich vielleicht, daß Dorothy Stenographin im Verteidigungsministerium war. So ist sie jetzt, als ehemalige Angestellte des öffentlichen Dienstes, im Genuß eines großzügigen Ruhegehalts.) Daher bin ich, meine Liebe, in der glücklichen Lage, Dir etwas Geld schicken zu können. Ich denke an tausend Pfund und möchte, daß Du weißt, daß ich mich riesig freue, Dir dieses Geschenk machen zu können. Niemand kommt einem eigenen Kind näher als Du, und die Jahre, die Du bei mir in Swaithey verbracht hast, waren sehr glücklich für mich. Ich werde sie nie vergessen.
Ich weiß nur zu gut, daß Du Dir nicht gern etwas schenken läßt, doch wäre
Weitere Kostenlose Bücher