Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
einsam und erhaben in seiner kahlen Umgebung stand. Er dachte an die sich hinten anlehnende alte Kapelle und an die Reihe brauner und weißer Fertighäuser gleich daneben, die als Unterkunft für die Erstsemester dienten. Dort würde er Ende September seine neue, bei Cunningham erstandene Kleidung und sein Hebräisch für Anfänger auspacken und zum bewölkten Himmel über Sussex hinaufblicken.
    Estelle backte für ihn einen Kuchen. Mit Schokoladenguß schrieb sie »Viel Glück« darauf. Der Kuchen war in der Mitte eingefallen. Sie saßen alle vier in der Küche – Estelle, Timmy, Sonny und Wolf – und versuchten, ihn zu essen. Timmy sagte: »Ein sehr guter Kuchen. Wirklich.« Sonny hielt den Teller nach dem Probieren dem Hund hin, der an dem Kuchen schnupperte, dann aber zum Ofen ging, sich dort hinsetzte und sie beobachtete.
    Nach einer Weile meinte Estelle: »Man darf einem Menschen nicht im Weg stehen. Das weiß ich.«
    Sonny erwiderte nichts. Er stopfte sich eine Pfeife und zündete sie an. Als sie ausging, warf er sie auf den Tisch, stand auf und sagte zu Timmy: »Ich wünschte, mein Sohn, diese verdammten Deutschen hätten mir das Herz weggeschossen.«
    Am nächsten Morgen stand Estelle in ihrem ausgefransten Morgenrock, das graue Haar offen und bis zur Taille herunterhängend, vor dem Ofen. Sie rührte einen Haferbrei um und öffnete ein Paket Toastbrot. Der Tee war fertig.
    Sonny drückte sich im Arbeitskittel an der Küchentür herum und kaute auf Streichhölzern. Es war kalt im Haus. Das Licht auf den Feldern war nicht viel anders als im Dezember und Januar.
    Sie aßen den Haferbrei – Sonny im Stehen. Der Toast verbrannte, so daß es im Zimmer nach Holzkohle roch. Sonny fluchte und ging den Lieferwagen holen.
    Timmy wollte in Saxmundham den Zug nehmen, der ihn immer zum Schwimmunterricht ins Bad in der Marshall Street gebracht hatte. In London würde er dann von der Victoria Station aus nach Brighton fahren.
    Als es Zeit zum Gehen war, hielt sich Estelle am Ofen fest, um sich zu wärmen. Timmy küßte sie auf die Wange. Ihr Gesicht roch nach Pond’s Creme und ihr Haar nach dem verkohlten Toast. Sie sagte: »Dein Zuhause ist hier, Tim. Versuche, das nicht zu vergessen, wie es leicht geschehen kann.«
    Er verließ mit seinem schweren Koffer das Haus. Er trug einen Tweedmantel von Cord, der zu groß für ihn war, und einen grünen Schal.
    Nachdem er den Koffer hinten im Wagen beim Hund untergebracht hatte, fuhren sie los. Sonny saß am Steuer, mit weißen Stoppeln im Gesicht und Händen so rot und rauh wie die wettergegerbten John Waynes. Der Hund hatte Sonny die Pfoten auf die Schultern gelegt. Timmy konnte ihn riechen – sein fettiges Fell und seinen schlechten Atem.
    Es nieselte. Timmy blickte auf den frühen Morgen in Swaithey – auf die Markise der Fleischerei Loomis, die gerade hochgezogen wurde, die stille Kirche – und konnte es kaum erwarten, im College anzukommen, wo die Sonne scheinen würde.
    Während der Fahrt schwiegen sie. Timmy erkannte, daß es eine Stille war, die man nicht durchbrechen konnte. Es hatte keinen Sinn, es auch nur zu versuchen.
    Sie kamen auf eine Hauptstraße, die A12, und das Nieseln ging in Regen über. Lastwagen auf dem Weg nach London brausten an ihnen vorbei.
    Sonny verringerte die Geschwindigkeit und hielt schließlich auf einem Parkplatz an. Den Motor ließ er laufen. Der Hund wurde unruhig und wollte hinaus.
    »Was ist los?« fragte Timmy.
    »Nichts«, antwortete Sonny.
    »Warum halten wir hier?«
    »Das wär’s. Bis hierher und nicht weiter.«
    »Was meinst du damit?«
    »Ich meine, was ich sage. Weiter fährt der Wagen nicht.«
    Sie waren noch mindestens anderthalb Kilometer vom Bahnhof entfernt. Sonny lächelte, doch seine Augen lächelten nicht mit.
    »Also mach schon!« sagte Sonny. »Steig aus!«
    Timmy stellte sich den Abschied der anderen Teviotts-Neulinge vor. Er sah zärtlich lächelnde Mütter in den Kieseinfahrten vor sich. Er hatte Väter vor Augen, die mit Tränen der Rührung kämpften, als sie den Zündschlüssel ins Schloß ihres teuren Wagens steckten.
    Er erwiderte: »Ich verpasse den Zug!«
    Sonny zuckte mit den Schultern. »Deine Sache!« meinte er.
    Timmy stieg aus. Er öffnete die Hintertür des Lieferwagens, hielt den Hund fest, damit er nicht auf die Straße sprang, und zerrte seinen Koffer heraus. Mit Blick auf Sonnys Hinterkopf und dessen im Mantel verborgene Schultern sagte er: »Wenn ich nie wieder nach Hause komme, dann ist es

Weitere Kostenlose Bücher