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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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deine Schuld, nicht meine.«
    Er schlug die Wagentür zu. Sonny fuhr weg, wortlos und ohne sich noch einmal umzusehen.
    Timmy lief durch den Regen und war bald von ihm und dem spritzenden Schwerverkehr völlig durchnäßt. In der linken Hand trug er den Koffer, mit der rechten versuchte er, vorbeifahrende Autos anzuhalten. Alle dreißig oder vierzig Meter mußte er den Koffer abstellen und sich ausruhen. Die Abfahrtszeit seines Zuges rückte näher. Er bat Gott um Stärke.
    Niemand hielt an, und er verpaßte den Zug.
    Er traf spätabends, als es schon dunkel war, im College ein, nicht mit dessen Kleinbus, sondern mit einem Taxi, das er sich eigentlich nicht leisten konnte.
    Dr. Tate stand allein in dem kalten, hallenden Korridor. Er reichte ihm die Hand und sagte: »Willkommen am Teviotts. Außer mir hat sich niemand Sorgen gemacht.«
Anreden
    Die Veränderungen ließen Mary nicht älter wirken, sondern eher jünger.
    Das war überhaupt das erste, was sie bemerkte: daß sie jünger aussah. Ihr Körper verlor an Masse. Da sie so klein war, machte sie nun einen schlaksigen Eindruck, wie ein Junge von dreizehn oder vierzehn Jahren. Und das Haar, das jetzt auf ihrer Oberlippe und in einem schmalen Bogen rund ums Kinn sproß, glich dem Bartwuchs in der Pubertät; es war ein schwacher brauner Flaum.
    Sie hatte erwartet, daß ihre Brüste schrumpfen würden. Sie hatte geglaubt, sie würden so werden wie die Brüste einer Indianerin aus den Wäldern des Amazonas, die sie auf einer Fotografie im Natural History Museum gesehen hatte. Das Alter dieser Frau hatte man auf neunundneunzig geschätzt. Statt dessen wurden sie härter und kleiner. Sie sahen jetzt auswie die Brüste Lindsey Stevens’, drei Jahre bevor sie Ranulf Morrit kennenlernte.
    Mary fühlte sich leicht, fast schwerelos und hatte das Bedürfnis zu rennen. Es erstaunte sie, wie langsam die Leute auf der Straße waren. Sie träumte davon, wie sie ihren grünen Tennisball weit von sich geschleudert und dann versucht hatte, ihn einzuholen. Während der Mittagspause lief sie den ganzen Weg zum Hyde Park und dann am Serpentine Lake bis zum Bootshaus. Es war Herbst. Kaum jemand fuhr Boot. Eines Tages sagte der Bootsverleiher zu ihr: »Möchtest du eins haben, Junge?«
    Mary suchte Sterns auf.
    »Nun?« fragte er.
    Sie erzählte ihm von ihrer Lauferei und ihrem Gefühl der Schwerelosigkeit. Als sie zu den Fischen hinüberblickte, bemerkte sie, daß diese zwischen ihren Korallenstückchen hin und her schossen und sausten, als ob ihre Worte das Wasser in Bewegung versetzt hätten.
    Sterns saß da und lächelte sie an. »Gut. Das nimmt ja einen erfreulichen Verlauf. Einen schöpferischen, könnte man sagen.«
    »Werde ich wachsen? Jungen von vierzehn wachsen noch.«
    Sterns legte den Kopf zurück und lachte. Er hatte eine sanfte Stimme, aber ein lautes Lachen.
    »Nein«, erwiderte er, »höchstens an Weisheit.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Das habe ich erlebt. Bei fast allen, denen ich geholfen habe – meistens waren es Männer, die Frauen werden wollten, doch einmal war es auch wie bei Ihnen. Das hat damit zu tun, daß Sie alle immer ein bißchen abseits stehen. Wenn man von einer Sache Abstand hat, fällt es leichter, weise zu sein.«
    »Ich möchte aber nicht abseits stehen. Das tue ich schon mein Leben lang.«
    »Nur weil Sie sich geteilt gefühlt haben – abseits von Ihnenselbst, wenn Sie so wollen. Bald schon werden Ihre beiden Ichs besser integriert sein, doch auch dann werden Sie eine besondere Stellung in der Welt haben, weil Sie die Welt aus zwei verschiedenen Blickwinkeln gesehen haben. Ich brauche Sie ja wohl nicht daran zu erinnern, daß dies für die meisten Menschen nicht möglich ist.«
    Sie erzählte Sterns von dem Bootsverleiher: »Ich war richtig glücklich, als er mich mit ›Junge‹ anredete.«
    An einem Samstag kam Irene mit einer Tagesrückfahrkarte nach London. Mary wartete an der Sperre auf sie, doch Irene erkannte sie nicht und sagte: »Ich habe dich nicht erkannt, Kleines. Doch das hatte ich mir auch nicht anders vorgestellt.« Sie sagte, sie brauche eine Tasse Tee. Dann saß sie weinend im Schnellimbiß des Bahnhofs. Ihr Taschentuch reichte für ihre Tränenflut nicht aus. Mary hielt ihr die Hand.
    Nach einer Weile sagte Irene: »Ich weine nicht, weil du das getan hast.«
    »Weinst du, weil du schockiert bist?«
    Irene antwortete, sie weine, weil Mary kein Vertrauen zu ihr gehabt habe. »Du hast Edward und Pearl vertraut, mir aber

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