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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Panamahut.
    Irene kam allmählich zu der Überzeugung, daß es Pearl war, die ihr Mr. Harker entfremdete. Ein Mann ohne Kinder, der wie ein Junggeselle lebte – es war ja zu verstehen, daß er keine Dreijährige in seinem Haus haben wollte; der Lärm ihrer Schritte, die Lieder, die sie vor sich hin sang, ihre Fingerabdrücke auf den Möbeln. Doch Irene konnte es nicht ändern. Pearl würde erst mit vier eingeschult werden, und sie wolltesie nicht allein lassen. Ihre beiden Nachbarinnen waren älter und mißbilligten schon Pearls bloßes Vorhandensein. Estelle hätte sich vielleicht um sie kümmern können, doch ihr Hof war weit von Swaithey entfernt, und außerdem hatte ihr Estelle erzählt, daß sie dabei sei, sich »zurückzuziehen«. Mehr hatte sie nicht erklären wollen. Sie hatte nur davon gesprochen, daß sie sich in den Schatten zurückziehe. Sie hatte das mit heiterer, munterer Stimme gesagt, als künde sie im Radio ein neues Malzgetränk an.
    Die Sorgen ließen Irene nachts nicht schlafen. Sie fühlte sich angesichts Estelles angekündigten Rückzugs und Mr. Harkers bereits stattgefundenen in den Keller hilflos.
    Irene entschloß sich, mit Mr. Harker zu sprechen. Sie wollte ihm erklären, daß sie Pearl, wenn diese ihr auch im ganzen Haus nachlief, verboten hatte, irgend etwas von ihm anzufassen, daß sie still mit ihren Puppen spielte und ihnen auch keine Lieder mehr vorsang. Sie wollte ihn, wenn nötig, bitten, sie nicht hinauszuwerfen, und ihn daran erinnern, daß Pearl in ein paar Monaten in die Schule kommen würde. Vor dem Gespräch würde sie das ganze Silber polieren und es auf einem Deckchen ausbreiten, damit er es sah, als strahlenden Beweis ihrer sorgfältigen Arbeit.
    Zwei Wochen vor Harkers geplanter Reise nach Marseille (er hatte außer dem Hut inzwischen noch teure Baumwollunterwäsche und ein Exemplar Wisden 1953 gekauft, das er auf dem Balkon lesen wollte) hinterließ Irene auf dem Küchentisch eine Nachricht. Ihre Rechtschreibung war schwach, und als sie ihre Notiz noch einmal durchlas, wunderte sie sich, wie viel schwieriger es doch war, etwas zu schreiben, als es zu sagen. Sprechen kam so leicht wie Lachen, doch Schreiben bereitete Kummer, als trauere man um jemanden, der einen zu früh verlassen hatte.
    Ihre Nachricht lautete:

    Sehr geehrter Mr. Harker,
    wenn icb bitte mohrgen mit ihnen sprecben könnte. Würden sie bitte zum zweiten Früstück das heißt so ungefär um elf Uhr zur Küche kommen. Ich mache eine Kanne Tee.
    Hochachtungsvol
    Irene Simmonds
    Zu Hause backte sie einen rosagelben Battenbergkuchen und legte ihn auf ein Zierdeckchen, um ihn herauszustellen. Sie wusch Pearl die Haare und band sie mit einem blauen Band zusammen. Sie schnitt ihr auch die Fingernägel und überzeugte sich davon, daß ihre Hände sauber waren. Als es auf elf Uhr zuging, begann ihr Herz, von dem sie glaubte, daß es so ähnlich wie ein Blumenkohl aussah, unter ihrem Schürzenlatz zu pochen. Wenn sie ihre Arbeit verlor, verlor sie alles.
    Sie stellte das Teegeschirr bereit und fand ein silbernes Kuchenmesser, das sie neben den Battenbergkuchen legte. Sie wußte nicht, ob Mr. Harker lange oder kurz gezogenen Tee bevorzugte. Sie setzte Pearl mit einem Lätzchen an den Tisch. Sie gab ihr einen Becher Zitronensaft und sagte ihr, sie solle mucksmäuschenstill sein. Sie strich sich die Schürze glatt und drückte ihre Heimdauerwelle zurecht. Sie wartete.
    Mr. Harker kam summend aus dem Keller. »Dum. Dideldideldideldum.« Irene hielt das für ein gutes Zeichen. »Dideldidel dideldidel dideldidel...« Sie lächelte ihr breites Grübchenlächeln und lenkte Mr. Harkers Augenmerk auf den Kuchen. Er schien darüber erleichtert zu sein, als sei er froh, daß es da etwas gab, was seine Aufmerksamkeit erforderte. Er sagte, seit dem Krieg wisse niemand mehr, wie man einen Battenbergkuchen mache.
    Irene schenkte Tee ein, und sie nahmen Platz. Eine elektrische Wanduhr ließ die Zeit ruckartig übers Zifferblatt kreisen. Pearl verkündete, daß sie mucksmäuschenstill sein würde. Er hob den Blick von seiner Hand, die den Tee umrührte, und sah zu dem Kind hinüber. Die Kleine schaute ihn ernst an. Obwohl Harker sie vor seinem selbstauferlegten Arrest im Keller oft gesehen hatte, hatte er jetzt das Gefühl, sie noch nie richtig wahrgenommen zu haben.
    Er war kein Kenner von Kleinkindern – er war so wenigen begegnet –, doch er wußte sofort, daß dies hier ein sehr hübsches kleines Mädchen war, sogar ein

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