Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
vollkommen gleichmäßigen Bogen. Ihr Vater war Spinner und Weber, der Quasten und Fransenkanten für Harrods in London und den königlichen Landsitz Sandringham Hall herstellte. Sandra hatte seine langen, behutsamen Hände und seine Neigung zur Sorgfalt geerbt. Walter war nicht ihr Typ. Als er in seinem kragenlosen Hemd vor ihr stand und sie zur Kirmes in Leiston einlud, sah sie von den Nähseiden auf, lächelte und sagte: »Nein danke. Ich glaube nicht, daß ich mitkommen möchte, danke.«
Er machte sich nach Leiston auf den Weg und ging allein zur Kirmes. Er stieg in einen Autoskooter und rammte lachend ein paar Mädchen, die das Lachen aber nicht erwiderten, sondern ihm mit dem Finger drohten und riefen: »Zisch ab, Krauskopf!« Er setzte sich auf ein Karussellpferd, mit dem es ständig auf und ab und im Kreis herum ging, und stellte sich Sandra vor: ihr Marmeladenhaar vom Wind hochgeweht, ihre Füße in weißen Schuhen, die Söckchen heruntergerutscht.
Er fand eine Wahrsagerin. Diese setzte sich ihre paillettenbesetzte Brille auf und blickte auf Walters große rote Hände. Dann sagte sie: »Ich sehe eine Suche. Sehr lang und schwierig. Und ich sehe einen Fluß.«
»Die Frau, die ich liebe, fährt gern Boot«, meinte Walter, »könnte es das sein?«
Die Wahrsagerin runzelte die Stirn. Sie hatte überhaupt keine Augenbrauen, sondern da, wo sie einmal gewesen waren, nur eine mit einem Stift gezogene Linie. Bevor sie noch zu antworten vermochte, fragte Walter: »Können Sie auch zaubern?«
Sie hieß Madame Cleo und hatte neunundzwanzig Pfund und sieben Shilling für ein perfektes Gebiß ausgegeben. Daher lächelte sie gern, um es zu zeigen. Sie lächelte also Walter an und sagte zu ihm, daß sie nur Gutes und Schönes zaubere, nie etwas Schlechtes, und daß einmal Zaubern zwei Guineas koste.
Walter kramte nach dem Geld und begann es abzuzählen.
Madame Cleo nahm ihre paillettenbesetzte Brille ab und ließ den Schal von ihren Schultern gleiten, so daß der obere Teil ihrer Brüste sichtbar wurde, der aus ihrem Perlenmieder hervorquoll. Walter verstand. Er holte tief und angstvoll Luft. Das Gefühl, einen Menschen verschluckt zu haben, wurde so stark, daß er meinte, daran ersticken zu müssen. Er ließ es zu, daß Madame Cleo mit ihren scharlachroten Fingernägeln seine Wange streichelte. Er sah zu, wie sie aufstand und das Geschlossen -Schild an die Wohnwagentür hängte. Er protestierte nicht, bewegte sich nicht und fragte sich auch nicht, ob er protestieren oder sich bewegen wollte. Wie ein Lamm ließ er sich von ihr zu ihrem rosa gestrichenen Boudoir führen, das altes Verdunkelungsmaterial am Fenster hatte und wo auf Untertassen zwei brennende Kerzen standen.
Das Bett war weich und roch nach versengtem Reyon. Madame Cleo hatte einen Edelstein im Nabel und die Tätowierung einer Rose auf dem Oberschenkel. Sie sagte, aller Zauber sei in ihr, so viel, wie er sich nur erträumen könne.
Walter erzählte Pete, was er auf der Kirmes getan hatte.
Pete lachte schallend. »Weißt du, wie diese Cleo wirklich heißt? Gladys!«
»Das macht mir nichts aus«, sagte Walter.
»Gladys Higgins.«
»Auch das ist mir egal.«
Pete gab ihm eine Salbe, die nach Teer roch. »Wenn du dir etwas herbeigezaubert hast, reib dich damit ein!«
Walter salbte sich jede Nacht ein und kehrte zu seinen Träumen von Sandra zurück. Er stellte sie sich mit einem Edelstein im Nabel und einer Rosentätowierung auf ihrem weißen Schenkel vor. Er lag mit ihr bei Cunningham unter dem Ladentisch.
Dann schrieb er in der weichen, sommerlichen Morgendämmerung, bevor er zur Arbeit in den Schlachthof ging, ein Lied für sie. Er hatte noch keine Melodie dafür, wußte aber, daß diese sich einstellen würde, und mit ihr würde vielleicht auch seine Hoffnung auf eine ferne Zukunft in Tennessee wiedererwachen. Sogar ohne Jodeln. Denn nun würde ihn Sandra inspirieren. Mit ihr im Herzen würde er Musik machen.
Sein Lied war traurig. Ihm wurde bewußt, daß das die meisten Country-songs waren, traurig und schlicht, denn so war das Leben auf dem Lande, besonders wenn man über einer Blutrinne arbeitete. Die Tage kommen und gehen, und in all dem Gleichmaß liegt eine gewisse Wehmut, selbst wenn man sie nicht deutlich wahrnimmt. Er schrieb sein Lied auf einen Rechnungsblock, auf den die vertrauten Worte Arthur Loomis & Sohn, Hausgemachte Fleischerwaren gedruckt waren. Er nannte es »Oh, Sandra«. Bis jetzt bestand es aus einem Vers und einem
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