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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Boot nun langsam mit der Strömung dahingleiten.
    »Ich dachte, du würdest es vielleicht gern wissen wollen. Kennst du seinen berühmten Song Your Cheatin’ Heart? «
    »Nein.«
    » I Don’t Care If Tomorrow Never Comes? «
    »Wie bitte?«
    »Das ist ein anderer Liedtitel.«
    »Nein.«
    »Weißt du, er hatte einen Wirbelsäulenschaden. Er ging gebeugt, ließ sich davon aber nicht aufhalten.«
    »Na gut. Wollen wir jetzt umkehren? Ich glaube, es wird bald zu regnen anfangen.«
    Umkehren? Sie waren doch gerade erst losgefahren. Sie hatten noch den Tizer zum Trinken, den in fettdichtes Papier gewickelten Schweinehackbraten zum Essen und – im richtigen Augenblick – das Lied, das er ihr vorsingen wollte. Walter hatte überhaupt nicht daran gedacht, daß der Nachmittag einmal zu Ende gehen und die Abenddämmerung hereinbrechen würde und das Boot zurückgegeben werden mußte.
    »Laß uns noch ein bißchen fahren«, meinte er. »Wenn es zu regnen anfängt, bringe ich dich zurück.«
    Sandra sagte nichts. Sie zog den Rock ihres rosa Kleides tiefer über die Knie und klemmte ihn unter die Oberschenkel. Es war diese Geste, an der Walter merkte, daß seine Liebe nicht erwidert wurde.
    Er ruderte weiter. Sie sahen geschäftige Sumpfhühner am Rande des Flusses und das Fallen der ersten Weidenblätter. Er dachte: Sandra zu lieben ist so, als versuche man als Mond den Himmel zu wärmen.
In der Zahnarztpraxis
    Margaret Blakey konnte von ihrem Haus aus das Meer sehen und hören. Sie war siebenundfünfzig Jahre alt. Ihr Haus stand auf den weichen Sandsteinfelsen über Minsmere. Während ihres Lebens hatten sich große Felsstücke gelöst, so daß der Abgrund inzwischen etwa zwanzig Meter näher an ihre Haustür herangerückt war.
    Sie hatte einen Sohn namens Gilbert. Dieser war Zahnarzt, dreißig Jahre alt und unverheiratet. Margaret hatte ihn gern bei sich. Sie hatte sich ausgerechnet, daß ihr Haus, wenn der Sandstein weiter im gleichen Tempo abbröckelte wie bisher, ins Meer fallen würde, wenn Gilbert achtundsechzig war. Die Tatsache, daß sie Gilbert noch zu Hause hatte, verlängerte irgendwie seine Jugend, so daß das Dahinschwinden ihres eigenen Lebens und des Fleckchens Erde, auf dem es aufgebaut war, auf sichere Distanz gehalten wurde.
    Gilbert sah aus wie Anthony Eden in jungen Jahren. Er hatte mattblondes Haar, seine oberen Eck- und Schneidezähne standen vor, und seine Augen hatten einen verträumten Ausdruck. Sein kleiner Schnurrbart war immer penibel gestutzt, und seine Hände waren lang und weiß. Margaret, die nach dem Suezkrieg geweint hatte – wegen England und Eden –, war stolz auf Gilberts Affinität zu Größe, auch wenn diese in der Vergangenheit lag. Sie sorgte für ihn wie für ein Baby. Er schlief zwischen Bettüchern aus irischem Leinen und träumte – das nahm Margaret jedenfalls an – von einer Zahnarztpraxis in der Harley Street und der Karies berühmter Münder.
    Doch davon träumte er nicht. Er träumte von jungen Männern. Sie warteten auf harten Stühlen in Zeitschriften blätternd auf ihn. Er bat einen nach dem anderen herein und leuchtete mit seiner 12-Volt-Miralux-Lampe auf ihre weichen Münder. »Bitte aufmachen«, sagte er liebenswürdig. »Bitte!«
    An einem Oktobertag saßen zwei Personen in Gilbert Blakeys Wartezimmer. Keiner von beiden blätterte in einer Zeitschrift. Beide hatten Schmerzen. Es handelte sich um Mary Ward und Walter Loomis. Sie waren noch nie beim Zahnarzt gewesen. Sie unterhielten sich. Durch die Angst hatte sich Marys Brille beschlagen, so daß Walter ganz feucht aussah, als säße er in einem türkischen Bad. Sein Gesicht war rot wie von all dem Dampf. Sie fragte: »Hast du Angst, Walter?«
    Er fuhr sich mit seinen großen Händen durch das dichte, lockige Haar. »Ich sollte eigentlich keine haben«, antwortete er dann, »nicht in meinem Alter. Nicht wahr?«
    »Ich jedenfalls habe Angst«, sagte Mary. »Jungen haben sie manchmal auch.«
    Nebenan konnten sie das Surren von Gilberts Bohrer hören. Es klang wie das Summen einer Mücke. Schmerz war oft lautlos, an diesem Tag jedoch nicht. Es war besser, sich über irgend etwas zu unterhalten, als hinzuhören.
    »Deine Mutter war weg, die Ärmste, nicht wahr?« sagte Walter.
    Mary wischte mit der Faust über die beschlagenen Brillengläser. »Ja«, antwortete sie dann.
    »Es hat uns allen leid getan. Allen im Dorf hat es leid getan.«
    »Wohnst du in diesem Obus, Walter?« fragte Mary.
    Walter lächelte. Das Lächeln

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