Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
schien seinen Schmerz und seine Angst noch zu verstärken. »Mir gefällt dieser alte Bus«, sagte er. »Er gehört aber Pete, nicht mir. Da, wo der Fahrer saß, hat er die Küche.«
»Weißt du, wann Obusse erfunden worden sind?« fragte Mary.
»Erfunden worden?«
»Ja. 1892, zum Beispiel.«
»Du bist mir aber ein komisches Mädchen! Wer weiß denn so was?«
»Manche wissen das! Es hat immer eine Zeit gegeben, in der es etwas noch nicht gab.«
»Außer beim Land.«
»Wie?«
»Außer beim Grund und Boden: Swaithey. Das ist schon immer dagewesen. Es steht bereits im Domesday Book.«
»Man kann trotzdem nicht ›immer‹ sagen. Es gibt sogar eine Zeit vor dem ›Immer‹.«
Walter nickte. Zu Hause sprachen seine Eltern von Mary Ward als von einem armen, unscheinbaren kleinen Wurm. »Wie ich höre, kommst du auf die Weston Grammar School«, meinte er.
»Wenn ich die Aufnahmeprüfung bestehe.«
»Das wirst du sicher!«
»Ich wünschte, es wäre schon vorbei.«
»Die Prüfung?«
»Nein. Das Bohren.«
Mary kam als erste an die Reihe. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Walter mit seiner Angst allein ließ. Sie stellte sich vor, wie er dasaß und durch die Wand hörte, was für Schmerzen sie hatte. Sie überlegte, ob er jetzt wohl versuchte, in Handarbeiten für Anfänger zu lesen.
Gilbert Blakey trocknete sich gerade die Hände ab, als Mary ins Behandlungszimmer kam, und lächelte sein charmantes breites Lächeln. Er trug einen weißen Kittel, der hinten mit Haftband zusammengehalten wurde. Mary war überrascht, wie freundlich er aussah.
Er bat sie, auf dem komplizierten Stuhl Platz zu nehmen und den Kopf zurückzulegen. Ihr Kopf sollte dann auf einem harten Lederkissen liegen, doch da sie zu klein für den Stuhl war, fand er keinen Halt. Sie wünschte, Cord wäre da. Cord würde sagen: »Da scheint etwas nicht zu stimmen, Martin.«
Eine Zahnarzthelferin war auch anwesend. Sie warf ein rosa Kügelchen in einen weißen, mit Wasser gefüllten Emailbecher, wo dieses sich auflöste und das Wasser färbte. Die Helferin war alt und hatte kein Lächeln auf den Lippen. Aufdem Kopf trug sie etwas Gestärktes, das mit Haarnadeln befestigt war. Sie sah Mary nicht an, sondern hielt den Blick auf einen fernen Punkt im Raum gerichtet, der ihr Starren zu erwidern schien, da sich ihr Blick noch mehr verhärtete. Mary dachte: Wenn die Schwestern im Mountview auch so sind, dann stirbt meine Mutter.
Gilbert war jetzt mit dem Abtrocknen seiner Hände fertig und kam zum Stuhl. Er ließ das Lederkissen herunter, und Mary fühlte, wie es hinter ihrem Kopf ankam und ihr Mut machte. Die Miralux-Lampe schien ihr in die Augen. Sie dachte: Was ist das doch für ein kompliziertes Licht, daß es Dinge aufzeigt, von deren Existenz niemand etwas wußte.
»Nun«, meinte Gilbert, »dann wollen wir mal nachsehen, nicht wahr?«
Die Zahnarzthelferin reichte ihm ein Tablett mit Instrumenten, als böte sie ihm eine Plätzchenauswahl an. Er suchte sich zwei aus, und die Helferin stellte das Tablett wieder ab. Dann beugten sich die beiden Gesichter über Mary – Gilberts, voller Liebenswürdigkeit, und das der Zahnarzthelferin, so unerbittlich wie die Zeit. Mary umklammerte die Stahlarmlehnen des Stuhls und wünschte, eine davon wäre Cords Hand. Achtung, es geht los, hörte sie Cord sagen.
Gilbert fand mit Hilfe des klugen Lichts die Ursache von Marys Schmerz und untersuchte die Stelle. Das war so qualvoll für Mary, daß sie glaubte, auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet zu werden. Schmerzfrei zu sein war nicht mehr vorstellbar, gehörte der Vergangenheit an, zu der es kein Zurück mehr gab. Und dann entdeckte Mary – verborgen hinter den beiden Gesichtern und dem Licht, hinter der verlorenen Vergangenheit und Abwesenheit Cords – wieder ihren alten Verbündeten, das Leid. Sie hatte seine Macht vergessen. In ihrer Angst hatte sie den Glauben an seine magische Wirkung verloren. Doch jetzt, da sie erneut auf ihn gestoßen war, gab sie sich seiner transformierenden Kraft hin. Sie ließ die Armlehnen los. Sie hörte auf, sich zu wünschen, Cords Ordensband-Hand zu spüren. Sie dachte klar und hart. Als Gilbert ihren faulen Zahn anbohrte, spürte sie, wie Mary mit jeder Sekunde ein bißchen mehr vernichtet wurde, wie sie in Stücke zerfiel und schließlich zu Brei wurde – und Martin erneut Bestätigung fand.
»Amalgam«, sagte Gilbert zu seiner Helferin.
Diese verschwand aus Marys Blickfeld. Gilberts Gesicht, das dem Marys so
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