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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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über den Hals,dann über die Unterarme und Hände. Er sagte, einige Leute in Swaithey würden ihn wegen seines Auges für bekloppt halten, doch er sei nicht so bekloppt, daß er so etwas tun würde. Er fügte noch hinzu: »Ich habe einmal einen Zauberer gesehen. Er las Gedanken. Er war aber nicht gut. Er kannte nur Telefonnummern.«
    Mary blieb stehen und wartete, ob Pete seine Meinung noch ändern würde. Doch er steckte den Lappen ein und wandte sich ab.
    Sie ging durchs Dorf nach Hause, und als sie den Lärm von Rasenmähern hörte, hatte sie eine Idee. Und diese Idee – Mäherklingen als Messer zu verwenden – kostete sie anderthalb Nächte Schlaf. Sie arbeitete im Geräteschuppen beim Schein einer Taschenlampe. Es waren nicht zehn Klingen, sondern nur sechs, und sie mußte jede einzelne herausnehmen, einen Holzgriff für sie anfertigen und ihn an der Klinge befestigen. Einzig der Gedanke an die Angst, die sie auslösen würde, hielt sie davon ab, sich auf den Boden des Schuppens zu legen und wie ein Murmeltier zu schlafen.
    Und dann waren die Messer nicht so lang wie die eisernen Bettpfosten. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als einen kleineren Kasten herzustellen. Das bedeutete, daß Timmy noch weniger Platz darin hatte. Sie mußte ihm erklären, daß er bei der kleinsten Bewegung geschnitten würde. Er saß daher wie gelähmt im Dunkeln. Auf Marys Anordnung hin sang er: »Agnus Dei, qui tollis peccata mundi/miserere nobis pacem/Agnus Dei, dona nobis pacem ... «
    Lindsey traf am Nachmittag ein. Ihr Vater brachte sie mit seinem Humber Super Snipe zum Hof. Außer Mary kam niemand zu ihrer Begrüßung. Estelle sah mit zugezogenen Vorhängen fern, und Sonny und Timmy waren draußen bei der Ernte, wo es staubig und sehr hell war.
    Mary zeigte Lindsey ihr Zimmer. In einer Ecke standen abgedeckt der Zauberkasten und die sechs aus den Mäherklingen hergestellten Messer.
    Mary sagte: »Du kannst mein Bett haben. Ich schlafe auf Kissen.«
    Lindsey erwiderte: »Okay. Aber du siehst schlecht aus, Marty, du siehst schrecklich aus.«
    »Ja. Es tut mir leid, Lindsey, aber ich habe eine traurige Nachricht bekommen. Mein Pony ist gestorben.«
    Lindsey packte gerade eine gerahmte Fotografie von Ranulf Morrit aus. Sie stellte sie vorsichtig auf den Nachttisch. Dann ging sie zu Mary hinüber und nahm sie in die Arme. Marys Gesicht wurde dabei an ihre Brust gedrückt, die nicht mehr ganz flach war. »Wie schrecklich!« sagte Lindsey. »Wie furchtbar schrecklich! Weine ruhig, wenn dir danach zumute ist. Wie hieß es denn?«
    Das Gesicht in Lindseys Angorapullover vergraben, fiel Mary kein Ponyname ein. Daher sagte sie nichts. Lindsey würde ihr Schweigen als Kummer auslegen. Nach einer Weile löste sich Lindsey wieder von ihr und packte ein paar funkelnagelneue Reitsachen aus. Mary sah ihr dabei zu und wartete, wußte aber nicht, worauf.
    Später dann wartete sie auf den Abend, auf die Vorführung des »unglaublichen Schwertkastentricks«.
    Mary stellte drei Stühle in einer Reihe auf. Sie wünschte, sie hätte mehr Zuschauer. Sie ließ ihre Mutter Platz nehmen, dann Lindsey und Sonny. Lindsey trug ein grünes Band im Haar. Mary dachte: Während der Zeitspanne zwischen dem Hineinstecken und Herausholen der sechs Messer habe ich absolute Macht über die drei, und dann ist es gelaufen.
    Sie präsentierte den Kasten, den sie mit goldenen und silbernen Sternen beklebt hatte. Sie drehte ihn in der Hand, damit man ihn von allen sechs Seiten sehen konnte. Anschließend rief sie Timmy und sagte: »Meine Damen und Herren, mein Assistent bei diesem erstaunlichen Trick ist ein Chorknabe, der das Agnus Dei für Sie singen wird, um Ihnen zu beweisen, daß er noch im Kasten ist. So, Timmy, es ist an der Zeit, hineinzuklettern.«
    Er vergaß die Verbeugung vor dem Publikum, die ihmMary beigebracht hatte. Ihm stand der Mund offen. Mary fragte sich, ob er Angst hatte, ob er wußte, daß sie ihn einmal mit Flit hatte töten wollen.
    Sie schloß die Tür des Kastens. Die Messer waren hinter einem Sessel versteckt. Blacks Buch riet: »Bringen Sie die Schwerter mit einer weitausholenden Geste zum Vorschein. Versuchen Sie, diese wie einen Fächer in einer Hand zu halten.« Doch die Mäherklingen mit den Holzgriffen waren schwer, und es war unmöglich, sie wie einen Fächer auszubreiten. Mary konnte sie gerade eben hochheben.
    Sie zeigte sie ungeschickt. Auf ihr Zeichen hin (ein Tritt gegen den Kasten) begann Timmy sein Agnus Dei zu singen.

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