Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
Seine Stimme klang dünn und ängstlich. Auch die Zuschauer sahen nun ängstlich aus. Mary lächelte in sich hinein und trat vor.
    »Meine Damen und Herren! Sie sehen hier die gefährlichsten Messer, die es je gegeben hat. Sie sind schärfer als Schwerter, schärfer als Krummsäbel...«
    »Moment!« bellte Sonny. Er stand auf.
    Mary fuhr fort, als ob nichts geschehen wäre.
    »Eins kann ich Ihnen versprechen«, sagte sie. »Meinem Assistenten, dem Chorknaben, wird nichts passieren.«
    »Stop!« rief Sonny.
    »Laß sie den Trick zu Ende bringen«, sagte Estelle.
    »O Mann...« flüsterte Lindsey.
    Da war Sonny bei Mary und hielt ihre Hand mit den Schwertern fest. Timmys Agnus Dei verklang. »Was ist das?« fragte Sonny.
    »Du verpatzt den Trick«, sagte Estelle.
    »Halt den Mund!« schrie Sonny. »Was ist das, Mary?«
    »Das sind Klingen...«
    Sonny riß sie Mary aus der Hand. Sie schienen für ihn ganz leicht zu sein.
    »Und?« fragte er.
    »Sie gehören zum Trick.«
    »Nein, das tun sie nicht. Sie gehören zu keinem Trick. Ichlasse mich doch nicht zum Narren halten. Du versuchst mich für dumm zu verkaufen, seit du laufen kannst, doch das gelingt dir nicht. Diese Messer hier gehören zu meiner Mähmaschine, und du hast sie gestohlen, und wenn du glaubst, daß du uns verarschen kannst und wir hier sitzen und uns deinen sogenannten Trick ansehen, dann bist du dümmer, als ich dachte.«
    Timmy war hinten aus dem Kasten geklettert und stand fassungslos vor Sonny.
    Sonny gab Mary eine solche Ohrfeige, daß sie rückwärts auf den Kasten fiel, der unter ihr einkrachte. Timmy lachte entsetzt auf.
    Estelle hielt sich die Hände vor die Augen.
    Mary und Lindsey lagen im Dunkeln nebeneinander in Marys Zimmer.
    »Es tut mir leid, daß mein Trick so ein Reinfall war«, sagte Mary.
    »Ist schon gut!« erwiderte Lindsey. »Eigentlich mache ich mir gar nicht so viel aus Zaubern.«
    Es war mehr oder weniger so, wie Mary es sich vorgestellt hatte: Lindsey im Bett, sie selbst auf dem Boden auf den Sofakissen.
    Sie hatte sich jedoch auch eine gewaltige Stille vorgestellt, eine Stille, als wäre das Ende der Welt gekommen und als gäbe es nur noch sie beide in diesem Zimmer, als wären sie die letzten Überlebenden. Es war jedoch überhaupt nicht still.
    Nebenan im Schlafzimmer stritten Sonny und Estelle über den Baum. Es war sehr peinlich. Mary mußte sich bei Lindsey entschuldigen. Sie mußte sagen: »Hör nicht hin!«
    Doch sie lagen da und hörten hin.
    Estelle warf Sonny vor, daß ihm ein Baum wichtiger sei als die geistige Gesundheit eines Menschen. Er entgegnete, daß ihr ein Flimmerkasten wichtiger sei als eine Buche, die hundert Jahre alt war.
    Estelle fing zu weinen an und jammerte: »Ein Baum tut nichts, erzählt nichts, bringt einen niemals zum Lachen.«
    Sonny schlug mit der Faust aufs Kopfteil des Bettes. Er sagte, er würde den Baum am nächsten Morgen fällen, doch das würde das letzte sein, was er für sie tun würde, das allerallerletzte.
    Danach herrschte Stille.
    Mary hörte im leeren Dunkel einen Eulenschrei, und sie dachte: Die Eule ist wie meine Kindheit, nah und doch fern, einen Augenblick für einen Ruf innehaltend, um dann mit unbekanntem Ziel davonzufliegen.

Zweiter Teil

6. Kapitel
    1961
Ein Unwetter
    Eines Morgens im Mai brach Gilbert Blakeys Zahnarzthelferin wortlos zusammen und starb auf dem Boden des Behandlungszimmers. Gilbert und sein Patient hörten einen dumpfen Aufschlag. Gilbert unterbrach das Bohren an einem oberen Backenzahn und drehte sich um, und der Patient drehte sich ebenfalls um, und sie sahen, daß Schwester Anstruther wie eine Wachsfigur, mit einem Lächeln auf den Lippen, auf das Linoleum gefallen war.
    Gilbert legte den Bohrer aus der Hand. Er ging zu einem Schrank, um nach Riechsalz zu suchen.
    Der Patient war Forellenzüchter. Ihm fiel ihr trüber Blick auf. In seinem schockierten, angebohrten Zustand sah er ihren Körper an die Oberfläche eines Phantasiewassers steigen. Er sagte zu Gilbert: »Ich schätze, das ist keine Ohnmacht, Mr. Blakey.«
    In der folgenden Nacht brach dann das Unwetter los. In zehn Stunden regnete es fast zwanzig Zentimeter. Die Apfelblüten wurden vom Sturm heruntergefegt, Telefon- und Stromleitungen fielen auf Wege und Felder. Die Brandung des Meeres warf sich gegen die wehrlose Küste, und die Klippen von Minsmere bröckelten und rutschten weiter ab.
    Als Gilbert Blakey von den Blitzen und dem Donner aufwachte und in seinem Zimmer kein Licht machen

Weitere Kostenlose Bücher