Die Verwandlung
dazu eine schwarze Schlafanzughose. Mit dunklen Schuhen und einer Strickmütze, die eng am Kopf anlag, sah ich wie eine Einbrecherin aus einem Angelina-Jolie-Streifen aus. Nun musste ich nur noch abwarten. Einige Male kniff ich beinahe, schwankend zwischen wutbedingtem Selbstbewusstsein und dem Gedanken: » Mach nicht Jagd auf einen Mörder! « Doch wurde mir klar, dass ich nicht wirklich eine Wahl hatte– ich konnte niemanden, der mir eventuell hätte helfen können, in meine Geheimnisse einweihen, und ich konnte meine einzige Freundin nicht anrufen, damit sie mir beistand, ohne zu riskieren, dass sie verletzt wurde. Aus den Zeitungsartikeln, die ich über Emily Cooke und Dalton gelesen hatte, wusste ich, dass die Polizei über das völlige Fehlen von Spuren an den Tatorten erstaunt war. Sie kamen der Spur des Schützen nicht näher, was bedeutete, dass ihm eine weitere Nacht zur Verfügung stand, um auf den Straßen zu patrouillieren, mich oder den anderen Werwolf ausfindig zu machen, sich in Daltons Krankenzimmer zu stehlen… Draußen wurde es dunkel. Häuser und Bäume wurden in eine Finsternis getaucht, die die ganze Welt erschreckend leer erscheinen ließ. » So « , sagte ich laut, während ich wartete. » Andere Emily, ich wollte dir nur dafür danken, dass ich in Wirklichkeit gar nicht von dir besessen bin. Ermordet oder nicht– das wäre nicht cool gewesen. « Die Antwort bestand selbstverständlich aus Schweigen. Alles, was ich hören konnte, war das Summen meines Computers. Ich stellte mir jedoch vor, dass sie hier wäre, in der Ecke saß, toll angezogen war und mich anstrahlte. In meinem Kopf hatte ich sie nie in Farbe gesehen, immer nur in Schwarz-Weiß und Graustufen. Es fiel mir schwer, sie mir komplett in Technicolor vorzustellen. » Ich wünschte, ich hätte dich gekannt « , fuhr ich fort, einfach nur, um die Stille im Raum zu füllen und um mir meine Sorgen von der Seele zu reden. » Ich wünschte, ich hätte nicht zu viel Angst davor gehabt, mit dir zu sprechen. Ich glaube nämlich, wir hätten Freundinnen werden können, weißt du? Du hättest mir beibringen können, wie man sich in Anwesenheit neuer Leute nicht in ein Nervenbündel verwandelt, und ich hätte dir einen Haufen toller Filme zeigen können, die dich ordentlich zum Lachen gebracht hätten. « Meine imaginäre Emily Cooke schlug die Beine übereinander und neigte den Kopf zur Seite, ohne ihren Gesichtsausdruck zu ändern. Ich versuchte, mir vorzustellen, dass sie etwas erwiderte– doch mir wurde bewusst, dass ich mich tatsächlich nicht mehr an den Klang ihrer Stimme erinnern konnte. Ich nahm die Brille ab und schloss die Augen. Mit leiser Stimme flüsterte ich: » Ich tue das für dich, Andere Emily. Weil du nicht verdient hast, was dir widerfahren ist. Und ich bin wirklich traurig darüber, dass du gegangen bist. « Ich konnte nicht länger an dem Trugbild von Emily Cooke festhalten, und sie verschwand. Trauer stieg in mir hoch und legte sich schwer auf meinen Magen. Was seltsam war, denn ich hatte sie nicht einmal richtig gekannt. Die Trauer wich bald einer pulsierenden, entschlossenen Wut. Ich würde den Mörder finden, wer immer es auch war. Und er würde für das bezahlen, was er getan hatte.
Die Veränderung setzte ein, und zum ersten Mal akzeptierte ich sie ohne den geringsten Widerstand. Mein Magen krampfte sich zusammen, meine Brust spannte sich, doch es war nicht mehr so schlimm wie zuvor. Ich fühlte weder Benommenheit noch Schmerz, mir schwirrte lediglich der Kopf, und ich spürte ein angenehmes Kribbeln im Bauch, ähnlich dem Gefühl, das man nach einer Fahrt im Vergnügungspark hat. Nach wenigen Sekunden war die Verwandlung vollzogen. Und ich war zurück. Kraft durchströmte meine Muskeln. Ich streckte mich und kickte Snoopy weg. Dann stellte ich mich hin. Ich hob die Augenbrauen, als ich mich im Spiegel sah. Ich fand, für die Tagsüber-Emily sah ich ganz gut aus, und ich hatte… recht. Vielleicht bestand ja noch Hoffnung für das Modebewusstsein meiner Tagsüber-Persönlichkeit. Dann entsann ich mich, warum ich aussah wie das nächste Bond-Girl, und grinste bedrohlich. Ich hatte eine Mission: Den Typen zu finden, der es gewagt hatte, mich Freitagnacht auszutricksen, der versucht hatte, mich zu erschießen– und die Sache zu Ende zu bringen, die ich begonnen hatte, als ich ihm einen Müllcontainer ins Gesicht geschleudert hatte. Ich schob das Fenster auf, schwang mich über das Fensterbrett und sprang auf das
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