Die Verwöhnungsfalle - für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit
rechtfertigen sein. Es handelt sich hier um typische Beispiele, wie Erwachsene durch ein Hineininterpretieren von Vorstellungen oder Wünschen unangemessene Handlungsszenarien entwickeln. Allen ist gemeinsam, dass sie in der Situation von den Kindern mit großer Wahrscheinlichkeit als angenehm und entlastend erlebt wurden. Denn wer wird schon bei solchen Vorlagen Naschereien oder Bequemlichkeiten zurückweisen. Aber Weichheit und Nachlässigkeit sind keine tragfähige Mitgift fürs tägliche Überleben, weder bei Naturvölkern noch in Konsumgesellschaften.
Unangemessenes Reagieren
Hanna fällt beim Herumtollen mit einigen Freundinnen auf der Wiese hin. »Da hast du dir aber sicher sehr wehgetan, komm, ich nehme dich auf den Arm!« Das Hinfallen sah unproblematisch aus. Kaum aber ist Hanna auf dem Arm der Großmutter, setzt schon ein ganz bitterlich wirkendes Weinen ein. – Die gut zweijährige Julia stapelt mehrere Schokoladentafeln im Einkaufswagen aufeinander und zeigt stolz ihr Werk. Daraufhin die Mutter: »Du kannst ruhig eine aufmachen und schon mal was naschen!« – Die elfjährige Marion kommt missmutig wirkend vom Reitunterricht nach Hause. Auf die Nachfrage der Mutter, ob irgendetwas passiert sei, antwortet sie: »Ich glaube, die anderen Kinder mögen mich nicht; die lachen so oft, wenn ich aufs Pferd steige.« Daraufhin die Mutter: »Das Reiten soll dir ja schließlich Spaß machen. Wenn es dir nicht mehr gefällt, melden wir dich halt woanders an.« – Der etwas schwächlich wirkende Werner kommt mit einem blutenden Knie nach Hause. Die alleinerziehende Mutter fragt aufgeregt, was denn passiert sei. »Manni, Dirk und Jürgen haben mir beim Hockey einfach so einen Stock vor die Rollerblades geworfen. Beim Sturz habe ich mir dann das Bein aufgeschrammt.« Darauf die Mutter: »Ich werde jetzt sofort zu den Eltern gehen und sagen, dass dies zu weit geht. Schließlich ist deine Jeans auch hin.« Eine Kurz-Recherche, ob es nicht doch einen Streit auslösenden Vorspann gegeben haben könnte oder ob die Situation überhaupt wie berichtet passiert ist, findet nicht statt. Schließlich gilt es, den einzigen Sohn zu schützen.
Alle hier aufgegriffenen Episoden, aus Distanz beobachtet, miterlebt oder unmittelbar per Bericht zur Kenntnis bekommen, verdeutlichen, dass wiederum durch Vermeidung oder ein Hineininterpretieren eigener Betroffenheit, Bedürfnisse oder Vorstellungen keine angemessene Reaktion auf das Verhalten des jeweiligen Kindes folgte. Damit wurden gleichzeitig grundlegende Erfahrungen im eigenständigen Umgang mit selbst inszenierten oder sonst wie zustande gekommenen Problemen verhindert.
Alexander S. Neill, einer der Protagonisten der antiautoritären Erziehung, berichtet innerhalb seiner theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit dem Beispiel Summerhill: »Einmal brachte eine Frau ihr siebenjähriges Mädchen zu mir. ›Mr. Neill‹, sagte sie, ›ich habe jede Zeile gelesen, die Sie geschrieben haben. Und noch bevor Daphne zur Welt kam, hatte ich schon beschlossen, sie genau nach Ihren Prinzipien zu erziehen.‹ Ich warf einen Blick auf Daphne, die mit ihren schweren Schuhen auf meinem Konzertflügel stand. Sie machte einen Satz auf das Sofa und stieß beinahe die Sprungfedern durch. ›Sehen Sie, wie natürlich sie ist‹, sagte die Mutter. ›Das Neill’sche Kind!‹ Ich fürchte, ich bin rot vor Wut geworden. Diesen Unterschied zwischen Freiheit und Zügellosigkeit können viele Eltern nicht begreifen.« Er fährt fort: »Wenn immer nur Disziplin herrscht, haben Kinder keine Rechte. Wenn sie jedoch verwöhnt werden, haben sie alle Rechte. In einem guten Bezug haben Kinder und Eltern jedoch gleiche Rechte.« 22
Die Verwöhnungs-Formel im Vollzug
Zu viele Menschen streben in ihrem alltäglichen Handeln nach dem einfachen Weg, der leicht gemachten Annehmlichkeit. Eine ganz simple Folge ist: Wenn wir etwas nicht – möglichst früh – lernen, können wir dies auch nicht. Anstelle eines Förderns von Eigenverantwortung wird durch Fremd-Übernahme oder Ignorieren von anstehenden Aufgaben die Entwicklung und Stabilisierung von Eigenverantwortung erfolgreich verhindert. Die Verwöhn-Regel 3 = 3 bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt:
❯ Falsches Helfen : Eltern oder andere Erziehungskräfte übernehmen die vom Kind selbst zu erlernenden Funktionen.
❯ Fehlende Begrenzung : Eltern oder andere Erziehungskräfte kapitulieren vor den Aktionen der kleinen oder größeren
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