Die Verwöhnungsfalle - für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit
Amtsdeutsch würden solche Machenschaften mit ›Vorteilserschleichung‹ betitelt, Verhaltensbiologen bezeichnen sie als »Lustgewinn ohne Anstrengung«, Individualpsychologen nennen sie »finales Streben nach Zuwendung ohne eigenen Beitrag«, im Alltag heißen sie oft ganz einfach »Abzockerei«. Auch wenn den Handelnden klar sein müsste, dass sich schnell eine spürbare Abhängigkeit von einem solchen Tag und Nacht offenen Supermarkt der Möglichkeiten ergibt, es ändert kaum etwas. Wo lassen sich denn sonst so viele Bedürfnisse auf eine solch einfache Art befriedigen? Wenn Eltern, Großeltern, Ehepartner bzw. andere nette Menschen oder Institutionen schon ein solches Warenangebot ohne Preisauszeichnung bereithalten, dann gibt’s nur eines: zulangen!
So wohnt beispielsweise der 32-Jährige sehr gern im ›Hotel Mama‹, mit ganz individuell zugeschnittenem Zimmerservice. Und die Bindung an diese Dauerunterkunft plus sozialem Ambiente ist so intensiv, dass die Freundin in Stunden stiller Zweisamkeit regelmäßig Sorge hat, dass gerade jetzt die besorgte Mutti per Handy das momentane Wohlergehen des Sohnes erkunden möchte. Ein dauerhaftes Zusammenleben wäre sowieso undenkbar, weil Kochen, Backen, Hemdenbügeln, Frühstückbereiten, Trösten und Problemelösen von niemandem so perfekt beherrscht wird wie von der ersten Frau im Leben eines Mannes, von Mama! So lässt sich trefflich bis ins hohe Alter leben, vorausgesetzt, die Vitalität der Eltern ist so groß, dass sie Sohn oder Tochter geistig und körperlich fit überleben. Konsequenterweise werden sie dann auch noch die letzten Dinge für den nie richtig erwachsen gewordenen Nachwuchs regeln.
Aber auch der beruflich so sehr eingespannte Ehemann, ständig im Stress, schon von Natur aus mit einer Ungeschicklichkeit im Umgang mit den alltäglichen Lebensaufgaben behaftet, wird sich bei einer verwöhnenden Ehefrau schnell des Restes von Selbsttätigkeit entledigen. Um diesem Grundsatz treu zu bleiben, werden wichtige Geschäftsreisen genau dann notwendig, wenn ein Besuch der Schwiegereltern ansteht, Kränkeln setzt ein, wenn in Wohnung oder Haus die Arbeit ruft, der Elternsprechtag in der Schule kollidiert leider mit einer Fortbildung und für gewisse Offerten für die Zeit zwischen Zubettgehen und Einschlafen ist Mann nur dann empfänglich, wenn auch wirklich alles bestens arrangiert und mühelos zu handeln ist. 61
Beim Schreiben dieser Zeilen höre ich schon die kritischen Einwände von Müttern und anderen Aktiv-Verwöhnern: »Hier wird maßlos übertrieben«. – »In der Welt gibt es schon Egoismus genug, ich bin halt noch für andere da!« Spätestens beim letzten Einwurf, wenn er denn so käme, wäre ein Verweis auf das vorige Kapitel »Verwöhnung als Massenphänomen« fällig. Und was den Vorwurf der Übertreibung betrifft: Die Hinweise zum »Preis der Verwöhnung« im nächsten Kapitel werden entsprechend Aufschluss geben.
Trotzdem wird unterstrichen, dass nicht automatisch die oben zusammengestellten Zuwendungsangebote von der Lieblingsspeise bis hin zu Gesten wie ›Ich mach das schon‹ Ausdruck von Verwöhnung sind. Oberstes Prüfkriterium ist die Absicht . Durch diese wird offenbar, ob es um das eigene Wohl unter Ausnutzung eines anderen geht oder eben nicht. Weiterhin ist ein besonderes Augenmerk auf die Dosierung und Ausgewogenheit im Geben und Nehmen – ob innerhalb von Erziehung und Familie, in Partnerschaften oder im Beruf – zu richten. Solange die Eigenverantwortlichkeit eines Gegenübers nicht behindert und er bzw. sie zur Aktivität herausgefordert wird, solange handelt es sich nicht um Verwöhnung. Wenn jedoch Zuwendung zu Passivität führt, müssen alle Alarmglocken ›stopp!‹ schrillen.
Kinder und Erwachsene, Männer und Frauen sind gleichermaßen gefährdet. Alle können sich jedoch auch gleichermaßen gegen eine Vereinnahmung durch Verwöhnung wehren. Eine Verabschiedung von den Suchtmechanismen der Verwöhnung wird nur dann möglich sein, wenn Verwöhnt-werden-Wollende einer in den Schoß fallenden Bedürfniserfüllung überdrüssig werden, Schadensbegrenzung angesagt ist oder die Verwöhner sich aus ihrer ›Dealerrolle‹ befreien.
Die Selbstverwöhnung
»›Seit alters her‹, schreibt Konrad Lorenz, ›haben die Menschen herausgefunden, dass man die Wirkung lustbringender Situationen durch besonders schlaue Zusammenstellung der Reize steigern und durch deren ständigen Wechsel vor der Abstumpfung durch Gewöhnung
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