Die verzauberten Frauen
Leben als irgendeine historische Wahrheit zu ergründen.«
»Sie sagen es!«
Velsmann stand auf, legte Geld auf die Theke, grüßte mit zwei Fingern in Richtung des Barkeepers und verließ die Eckkneipe.
Andrea, Velsmann und Tibor standen an diesem Abend gemeinsam am Bahnhof, um den Regionalexpress zu erwarten, in den Laila von Köln kommend in Koblenz umgestiegen war. Er war pünktlich. Laila stieg aus, schwenkte die Arme über ihrem Kopf wie Windmühlenflügel und rannte auf sie zu.
»Juhu, ich habe den Platz!«, schrie sie.
Man umarmte sich stürmisch.
»Erzähl«, sagte Andrea. »Wie war’s?«
Laila berichtete in allen Einzelheiten. Sie würde im Herbst eine dreijährige Ausbildung zur Modedesignerin beginnen, ein Anstellungsvertrag bei einem großen Couturier auf dem europäischen Markt war wahrscheinlich. Das Mädchen war so selig, dass sie sogar die Ankündigung ihres Vaters, zusammen Essen zu gehen, mit einem zustimmenden Lächeln quittierte.
»Wir gehen zum Griechen am Marktbrunnen.«
Tibor sah müde aus. Er blieb einsilbig.
Velsmanns Gedanken schweiften oft ab. Wenn er seinen Sohn ansah, wusste er, dass auch er sich unaufhörlich mit ihrem gemeinsamen Interesse beschäftigte.
Siebzehn Schlüsselbegriffe.
Liebe, Verhängnis, Dreißigjähriger Krieg, goldenes Band, fromme Einsiedlerin, Männer, Frauen, Menschen, Gott, Zahl Sieben, Erbsünde, Märtyrerin, Verkündigung, Geheimer Orden, Erzengel, Prophetenberg, de Rancé.
Velsmann wusste noch immer nicht, was Tibor mit diesen Schlüsselbegriffen knacken wollte.
Was konnte dabei herauskommen?
Andrea quetschte ihre Tochter aus. Laila erzählte so begeistert von der Modeschule in Köln, dass sie eine komplette Portion Gyros mit Tsatsiki und Pommes verschlang und am Ende erstaunt auf den leeren Teller blickte.
Gerade in diesen Tagen war ihm eine Idee gekommen, mit der er sich nun unaufhörlich beschäftigte. Er hoffte inbrünstig, dass es nicht nur ein Gefühl war. Denn Gefühle ließen alles aus den Fugen geraten.
Er hatte zu zweifeln begonnen.
Konnte er das Räderwerk nicht anhalten? Konnte er nicht in die Speichen greifen und sich an die Seite des Schöpfers setzen? Denn, gestand er sich ein, er hatte auf seinem langen Weg alles lieb gewonnen. Sich selbst, so wie er war. Seine Welt, so wie sie war. Sogar seinen Auftrag, solange er ihn nicht zu Ende bringen musste. Seine eigene Schönheit vor allem, auch wenn sie alterte.
Er musste sich mit einem von ihnen treffen! Er musste sagen, dass er aus dem Verhängnis, wie er es sah, aussteigen wollte! Aus der Zahl. Aus dem Datum.
Er wollte leben.
Er machte es sich klar und erschrak.
Er wollte, um Gottes Willen, leben!
Er hatte einen von ihnen treffen wollen, um ihm die Bitte seines heiklen Ausstiegs vorzutragen. Stattdessen kamen zehn. Sie fuhren mit dunklen Limousinen vor und umschwärmten seinen weißen Landrover wie aggressive Moskitos.
Er blieb sitzen und blickte nervös durch die Frontscheibe. Er konnte niemanden identifizieren, auch die Kennzeichen sagten ihm nichts.
Er wusste, sie waren am Zug. Wenn sie ihn warten ließen, dann steckte eine strategische Absicht dahinter. In diesem Fall eine Zermürbungstaktik. Immer ging es bei ihnen um eine strategische Absicht. Er hatte nie erlebt, in all den Jahren nicht, dass sie etwas einfach und selbstverständlich taten. Es war das Verhalten von Herrschern.
Er wartete. Sie zeigten sich nicht. Kurz davor, auszusteigen und an eine der getönten Seitenscheiben zu klopfen, spürte er seine Müdigkeit. Er legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Meistens genügten Sekunden, um ihn wieder ins Leben zurückzubringen. Er durfte nicht einschlafen, aber es war ihm klar, dass diese Gefahr auch gar nicht bestand.
Er konnte schon lange nicht mehr schlafen. Er wusste, wie das Fleisch des Menschen durch das Essen stärker wird, so wird es auch sein Mark durch den Schlaf. Aber Schlaf überwältigte ihn nicht mehr. Er blieb ruhelos. Obwohl er wusste, dass seine Seele Wahres nur sah, wenn sein Leib schlief, obwohl er das wusste und auch, dass nur Schlaf seiner Seele die Wärme gab, und ihm Weisheit und Wissen nur im Unbewussten widerfahren würden …
… obwohl er auch wusste, dass nur der Schlaf sein Mark brennen ließ, es wachsen und klar werden ließ, obwohl er all dies wusste …
… wollte er wach bleiben …
… Deshalb überfiel ihn kein Schlaf mehr …
Der Gedanke beseelte ihn, dass er seinen Feinden nicht seine
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