Die verzauberten Frauen
weniger?«
»Genau. Übrigens, wer ist Jane Porethe?«
»Meine Therapeutin.«
»Ach ja? Na siehst du!«
»Was sehe ich?«
» Alles gehört zusammen. Alles was geschieht, hat mit dir zu tun. «
»Das gibt es nicht«, wehrte Velsmann heftig ab. »Irgendwo liegt ein Denkfehler in deinem Spielchen. Du hast in meinen Notizen geschnüffelt und reimst dir was zusammen wie der Magier auf der Bühne, der die schwebende Frau zersägt. Das kann doch gar nicht sein, verdammt noch mal!«
»Pause«, sagte Tibor. »Machen wir Pause. Oder hören wir ganz auf.«
Sie ließen alles stehen und liegen und gingen in die Küche.
Sie hörten Andrea im Garten rumoren. Laila sang in ihrem Dachzimmer einen aktuellen Song. Velsmann und sein Sohn sprachen nicht. Aber kaum hatten sie den letzten Schluck Milch getrunken und sich eine Banane geteilt, hatten sie es eilig, wieder in den Keller zu kommen.
Martin Velsmann musste das, was er gehört hatte, erst einmal verdauen. War sein ganzes Leben etwa nur eine Versuchsanordnung? Lag alles, was ihm widerfahren war, in der Hand einer über ihm schwebenden, mehrdimensionalen Buchstabenfolge? Jeder Mensch steht unter einer Prophezeiung, dachte er. Sie lautet: du stirbst. Und jedem Menschen wird vom Schicksal am Ende die Haut abgezogen, um die Summe seines Lebens draufzuschreiben.
Warum sich also aufregen?
Er war dennoch aufgeregt. Er rief von einer Telefonzelle hinter dem Parkplatz der Burg Crass die Therapeutin an. Aber Jane Porethes Anrufbeantworter sprach. Velsmann wollte nichts hinterlassen.
Er ging zum Rhein hinunter. Die Wasser flossen nach Westen. Tief am Horizont stand die Sonne hinter den grünen Wipfeln auf den Rheininseln.
Und wenn Tibors Methode fehlerhaft war? War so viel Botschaft auf engstem Raum nicht undenkbar? Velsmann war nur allzu bereit, das zu glauben. Es hätte ihn beruhigt.
Ließen sich nicht aus jedem Text, dachte er, den man in einen rechteckigen Buchstabenkasten packt, sinngebende Wörter herausfiltern, kreuz und quer? Tibor hatte das verneint. Die nächste Frage war, ob ein codiertes Ereignis vorbestimmt war oder bloß eine mögliche zukünftige Entwicklung aufzeigte, die man ändern konnte? Ändern, indem man sie aller Welt kenntlich machte und den Lauf der Dinge damit in eine andere Richtung schob?
War das nicht sogar des Pudels Kern? Es war ja so gewesen, dass die Prophezeiung tief vergraben und später wieder herausgeholt wurde. Und das vielleicht mehrmals im Verlauf der Geschichte. Merkwürdig war immerhin, dass jedes Mal, wenn das geschah, ein Verbrechen verübt worden war. Wollte eine Seite sie verstecken und die andere sie als Mahnung den Menschen bekannt machen?
Ging es darum?
Martin Velsmann war sich zwar sicher, dass die Namensübereinstimmung von Porete und Porethe rein zufällig sein musste. Aber de Rancé war das Original, das war klar, dafür war er zu oft in vergleichbaren Zusammenhängen aufgetaucht. Und Marguerite Porete? Sie konnte nicht die Mörderin von der Loreley sein, so wie de Rancé nicht der Mörder von Fulda sein konnte.
Das ließ den Schluss zu, dass diese beiden Namen nur für ein bestimmtes Programm standen. Vielleicht für zwei Organisationen. Oder wie sollte er das nennen – Orden, Vereinigungen. Porete stand in einem Lager, de Rancé im anderen.
Zwei Lager …
Aber was für Lager waren das? Welche Positionen nahmen sie zu den Jahrhundertthemen ein – der Prophezeiung, der Handschrift, zu den thematischen Motiven im Denken des Clemens von Brentano?
Velsmann nahm sich vor, am nächsten Morgen erneut in die Staatsbibliothek von Wiesbaden zu fahren, um nach den Fakten hinter den Namen Porete und de Rancé zu forschen. Was verband diese beiden Namen? Was hatten diese Gestalten der Geschichte miteinander auszutragen?
Martin Velsmann ging weiter, das Gesicht der tief stehenden Sonne zugewandt.
Er erlaubte sich, zu spekulieren.
Konnte es tatsächlich sein, dass es in der Geschichte der Menschheit einen geheimnisvollen Orden gab, der, obwohl mönchisch, sich in männlicher Linie fortpflanzte? Und auf der Gegenseite ketzerische und elitäre geistliche Frauen? Eine männliche Blutlinie und eine weibliche Ideenlinie – so hatte es einst Karen Breitenbach ausgedrückt. Und beides existierte mindestens seit dem Dreißigjährigen Krieg? Und diese beiden Seiten bekämpften sich bis aufs Messer und existierten noch heute und übten ihren Einfluss aus?
Einfluss worauf?
Setzte die eine Seite auf die Wahrheit einer
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