Die verzauberten Frauen
Esser. Er leckte sich nach jedem Satz die Lippen.
Aber das ist doch unmöglich, dachte Velsmann, diesen Mann kenne ich doch.
Er sah ihn sich genauer an. Sein Gesicht hätte eigentlich so schön sein können wie das eines der Erzengel auf den Bildern von Botticelli, die Velsmann vor ein paar Tagen zusammen mit Andrea in einer Ausstellung im Städel Museum in Frankfurt gesehen hatte. Sein Gegenüber schüttelte seine Locken. Aber neben den anderen Makeln hatte er sein Lachen nicht in der Gewalt. Es ähnelte dem Meckern eines Ziegenbocks.
»Kommen Sie doch mit zur Toilette«, sagte sein Gegenüber und atmete ein als schlürfe er eine Flüssigkeit. »Ich zeige es Ihnen!«
»Sagen Sie mir hier, was Sie von mir wollen«, sagte Velsmann ungeduldig.
»Es gibt hier Mithörer.«
»Das ist mir egal.«
»Ich bin als Experte für alte Handschriften unterwegs, mein Name ist Mark Sennsler. Wir haben uns schon in den Achtzigerjahren in Koblenz kennengelernt.«
»Richtig!«, entfuhr es Velsmann erstaunt. »Ich erinnere mich an den Tag im Bundesarchiv.«
»Sie waren an diesem Tag mit einer reizenden Kollegin von der Kripo Fulda bei uns.«
»Sie haben ein gutes Gedächtnis.«
»Das ist mein Kapitel«, sagte der Mann. »Deshalb bin ich noch immer Mitarbeiter des Bundesarchivs. Man kann auf mich nicht verzichten. Ich habe jedes Detail unseres Archivs hier oben abgespeichert.«
Er tippte sich an die weiße Lockenmähne. Sein Lächeln legte zwei Reihen makelloser Zähne frei. Velsmann vermutete, dass sie echt waren, trotz des Alters dieses Mannes, der sich ihm in seiner Eckkneipe in der Altstadt in den Weg gestellt hatte.
»Es ging damals um diese Grabfunde im Kloster Eberbach«, sagte Velsmann vorsichtig.
»Auch Ihr Gedächtnis funktioniert also.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Sie werden es mir nachsehen, dass ich Ihnen hier aufgelauert habe, ja aufgelauert, so kann man es nennen. Aber keine Angst, ich plane nichts Böses. Ich wusste einfach nur, Sie kommen an manchen Abenden hierher, um einen Aperitif zu nehmen.«
»Ach ja?«, sagte Velsmann vorsichtig. »Das wissen Sie? Ich habe eine Adresse. Warum klingeln Sie nicht einfach bei mir?«
»Das werden Sie später verstehen, Herr Velsmann.«
»Warum müssen Sie zur Toilette, um mir was zu zeigen?«
»Ich sagte schon, hier drinnen ist es zu voll. Ich wollte Ihnen meinen Ausweis zeigen, damit Sie mir glauben.«
»Als was wollen Sie sich ausweisen?«
»Eben als Beauftragter des Bundesarchivs. Es geht um eine durchaus delikate Angelegenheit.«
»Sagen Sie mir hier an der Theke, was Sie wollen. So top secret wird es nicht sein. Und wenn doch, dann rufen Sie mich an, so haben wir keine Zeugen.«
»Das glauben Sie? Am Telefon?« Der Mann blickte um sich, als säßen ihm Schwärme von Verfolgern im Nacken. Er beugte sich auf seinem Barhocker nach vorn und stützte sich schwer auf die Theke. »Keine Zeugen, meinen Sie?«
»So ist es.«
Der Mann flüsterte. »Ich will wissen, wie Sie in den Besitz dieser Kopie gekommen sind.«
»Wie bitte?«
»Der Kopie! Die Kopie der Handschrift aus dem Grab in Kloster Eberbach.«
Velsmann war ehrlich überrascht. Die Herren in den grauen Anzügen hatten dieselbe Frage gestellt. Er überlegte. Er wusste nicht, auf welcher Ebene er mit diesem Mann kommunizierte. »Woher wissen Sie davon, dass ich eine Kopie hatte?«, wich er aus.
»Sie sagten es mir damals in Ehrenbreitstein.«
»Ach, tatsächlich? Ich erinnere mich nicht. Wenn ich es gesagt hätte, warum haben Sie damals nicht nachgefragt?«
»Damals war ich mit der Sache noch nicht wirklich befasst, Herr Velsmann, es ist ja achtundzwanzig Jahre her. Inzwischen beauftragt man mich, allen Spuren nachzugehen. Meine Vorgesetzten möchten wissen, was außerhalb des Archivs alles in Umlauf ist. Wir möchten den Fall abschließen. Und da wir eine Anstalt der Originale sind, bedarf es einer kompletten Sammlung aller Beweisstücke, verstehen Sie?«
»Nicht wirklich.«
»Wir möchten vermeiden, dass irgendwann irgendwo plötzlich ein Papier auftaucht, das irgendjemanden an diese Sache erinnert. Und derjenige anfängt, damit herumzuwedeln und alles geht von vorn los. Das wäre schon mal von der Arbeitseffizienz her völlig unökonomisch.«
»Sie sind offiziell hier? Im Auftrag Ihrer Vorgesetzten?«
»Sehen Sie es ruhig so.«
»Alle Welt interessiert sich plötzlich wieder für diesen Fetzen Papier.«
»Ist das so?«
»Warum bloß? Gibt es irgendeine Art Stichtag, den ich übersehen
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