Die verzauberten Frauen
Hammer und Amboss verstehen. Als Feuer und Wasser. Als Himmel und Erde. Ich nenne diese Namen später, sie stehen im finalen Satz, der verborgenen Botschaft.«
»Nenn mir die Namen gleich«, bat Velsmann.
»Nein, du musst dich gedulden.«
»Kenne ich sie, sagen sie mir was?«
»Ich glaube schon. Aber eins nach dem anderen.«
»Verdammter Bengel!«
»Meine Versuchsanordnung entspricht den Messzahlen der Informatik, sonst funktioniert ein Rechnerprogramm nicht, es käme sich mit inhaltlichen Bedeutungen in die Quere. Ich gewinne aus dem Text auf dem Pergament rund achthundert Zahlen. Ich setze alle Zahlen ins Verhältnis und sehe am Ende, welche Zahlen sich am nächsten stehen. Dann verwandle ich die Zahlen wieder in Buchstaben und erhalte einen inhaltlichen Sinn.«
»Ich kann nur ahnen, worauf du hinauswillst.«
»Ich habe den Test mit zwei anderen Texten durchgeführt. Zwei beliebigen Texten aus Sportzeitschriften, die ich aus dem Internet heruntergeladen habe. Das Ergebnis ergab keinen Wortsinn. Deshalb sind die miteinander in Bedeutung stehenden Zahlen oder Buchstaben in der Handschrift kein Zufall. Sie sind bewusst hineingeschrieben.«
»Lass mich einen Einwand vorbringen. Es gibt doch in einem Text wie dem aus der Chronika willkürliche Kombinationsmöglichkeiten aus Worten. Wieso kannst du behaupten, nur die von dir ausgewählten Paare seien wichtig?«
»Weil ich ja Brentanos zentrale Motive herausgefiltert habe, um die sein Denken kreist. Unsere Stichworte sind die übrig gebliebenen Superbegriffe, daraus ergeben sich die Begriffspaare, keine anderen.«
»Ein anderer Einwand. Die Bedeutungen von Wörtern aus der Entstehungszeit, also frühes 19. Jahrhundert, und unserer Zeit, also frühes 21. Jahrhundert, haben sich doch völlig verändert. Also zum Beispiel dein Superbegriff Liebe. Darunter verstand man damals etwas gravierend anderes als heute.«
»Wie gesagt, ich kann mit dem Computer-Programm sowieso nur arbeiten, wenn ich Buchstaben in Zahlen übersetze. Und diese sind völlig frei von emotionalen Bedeutungen, Jahrhunderte können ihnen nichts anhaben.«
»Also gut«, seufzte Velsmann. »Dann geht die Achterbahnfahrt weiter.«
»Zum Abschluss meiner Beweisführung noch einmal: Es geht mir um konstante Buchstabenfolgen im horizontalen und vertikalen Text. Um Buchstaben, die sich in den Reihen nahe stehen, sich kreuzen oder berühren. Wenn Gegensatzpaare sich ineinander verschränken und die Figur eines Kreuzes ergeben, kann das kein Zufall sein. Meine Aufgabe war, herauszufinden, ob ich auf ein echtes Phänomen gestoßen bin. Und dazu diente die Biografie Brentanos.«
»Gib mir noch ein Beispiel für dein Vorgehen.«
»Stell dir vor, ich prüfe einen Text und erkenne, dass Wörter immer wieder im Kontrast zueinander auftauchen. Sollte der herauskommende Sinn bedeutungslos sein, erkenne ich das. Ebenso erkenne ich aber sofort, wenn sich Kontrast-Paare ergeben, wie Feuer und Wasser, Mann und Frau, Liebe und Hass. Das ist bei Clemens der Fall. Im nächsten Schritt ordne ich den Text in zweidimensionaler Form und erkenne die Auftrittstendenz dieser Begriffe als konstante Buchstabenfolgen …«
»Dann schüttelst du das Sieb, das Wasser fließt ab und die Goldkörner bleiben liegen?«
»So ist es.«
»Die Stunde ist um. Wir machen Pause.«
»So schnell hätte die Schulzeit mal vergehen sollen.«
»Bevor wir hochgehen, verrate mir noch schnell die beiden Begriffe.«
»Es sind zwei Namen, die sich am nächsten kommen. Einmal überlagern sie sich sogar in Form eines Kreuzes.«
»Ja, ja, wie heißen sie!«
»Derrancé und Porete.«
»Du meinst Armand-Jean Le Bouthillier de Rancé?«
»Derselbe.«
»Und Jane Porethe? Das kann wohl nicht sein!«
»Nein, Marguerite Porete. Wahrscheinlich ist sie die fromme Einsiedlerin aus Brentanos Text. Die Märtyrerin, die 1310 in Paris verbrannt wurde. Die leidenschaftlich liebende Begine. Sie bildet den schärfsten Kontrast zu de Rancé, dem Menschenhasser. Und deshalb bilden sie im Text ein Gegensatzpaar. Schau hier. Sie bilden die Form eines Kreuzes.«
»Wie lautet der finale Satz, in dem diese Namen auftauchen?«
»Es ist der Supersatz, das Banner, das über allem flattert, das güldene Band, das alles verbindet.«
»Herrgott!«
»Der Satz lautet: Liebe zu den Menschen wie Marguerite Porete, oder Liebe zum Universum wie Armand-Jean Le Bouthillier de Rancé – das ist der Strudel meines Lebens. «
»Nicht mehr und nicht
Weitere Kostenlose Bücher