Die verzauberten Frauen
Prophezeiung, wie sie das Pergament aus dem Eberbacher Grab beschrieb?
Und die andere Seite bekämpfte diese Sicht der Dinge?
Wenn es diese Fronten tatsächlich gab, dann musste die eine Seite erzkatholisch sein, fundamentalistisch bis auf die Knochen. Dazu passte eine Figur wie Armand-Jean Le Bouthillier de Rancé. Und die andere Seite, verkörpert von der Märtyrerin Marguerite Porete, lehnte die Vorhersage eines Weltendes ab? Oder hatten beide Seiten einfach nur einen blutigen, mörderischen Kampf um den Besitz der Handschrift geführt, wie man um eine Reliquie streitet? Die eine Seite besaß sie, die andere wollte sie? Gab es einen »guten« und einen »bösen« Orden? Den Frauenorden konnte man wohl kaum als gutartig bezeichnen, wenn eine Frau tatsächlich den Dreifach-Mord auf der Loreley begangen hatte. Andrerseits war das Opfer des Fulda-Mordes eine Frau gewesen.
Fragen über Fragen und keine Antworten.
Vielleicht ging es um etwas, bei dem Ursache und Wirkung längst verloren gegangen waren.
Wie auch immer, dachte Velsmann. Es kann nicht wirklich um eine endgültige Wahrheit gehen. Beide Seiten sind vermutlich ideologisch verwirrt und verbeißen sich ineinander. Jede Seite, so ist es doch üblich in der Menschheitsgeschichte, hat für sich die Wahrheit gepachtet und sieht die Lüge auf der Gegenseite. Beispiele dafür sieht man jeden Tag.
Morde, Scheiterhaufen, Hinrichtungen.
Ideologen und religiöse Fanatiker, die sich gegenseitig abschlachten.
Das ging ihn nichts an.
Es ging ihn aber etwas an, wenn er und seine Familie jetzt im Fokus irgendwelcher Bespitzelungen standen. Dann hörte der Spaß auf. Und wenn Velsmann ehrlich war, es juckte ihn mächtiger denn je in den Fingern, herauszufinden, wer der Mörder von Fulda war.
Das hielt er noch immer für seinen Fall.
Und Clemens von Brentano? Er war in den Besitz dieses mysteriösen Schreibens gekommen und hatte es tatsächlich vergraben, weil er es für die Wahrheit hielt, und er hatte es mit seinem Text gebannt – um die Verkündigung ungeschehen zu machen?
Velsmann rief noch einmal bei Jane Porethe an. Er hätte so gern mit ihr über einige Aspekte dieser Geschichte gesprochen. Vielleicht wollte er auch einfach nur wissen, wie es unter der Belastung solcher Probleme um sein Tepidum stand.
Wieder nur der Anrufbeantworter.
Velsmann ging weiter. Die Wasser des Rheins flossen noch immer behäbig nach Westen.
Dann, dachte er, gibt es noch die Behörden im Hintergrund, die nicht wollten, dass er sich einmischte. Alles sollte seinen Lauf nehmen, vielleicht bis hin zum Weltuntergang, aber ohne ihn, das wollte man ihm klar machen.
Welche Gefahr stellte er denn dar? Und für wen? Wer waren die Hintermänner?
Und dieser unselige Mark Sennsler. Wie passte der ins Bild?
Velsmann traute ihm nicht.
Aufklärung und Vernebelung, das waren weitere Stichworte! Der Alltag ist sowieso voller geheimnisvoller Zeichen, dachte er, aber jetzt kommen noch diese Banden künstlicher Verrätseler dazu, die auftauchen und wieder verschwinden, als hätten sie nichts besseres zu tun. Diese Cosmic Dancer !
Velsmann musste zugeben, dass er im Dunkeln tappte. Gleichzeitig schob ihn etwas vorwärts. Gedanken, wie er sie jetzt dachte, hatte er noch vor ein paar Wochen nicht gekannt. Eine Art Fortschritt, dachte er.
Aber in welche Richtung!
Während er den braunen Umschlag aufriss, dachte er: Wie die Sonne ist die weibliche Lust, wenn sie die Erde mit ihrer Wärme sanft, langsam und fortwährend durchdringt, damit sie Früchte trägt. Ein Blick aus den Autofenstern zeigte ihm, dass er allein auf dem Waldweg stand.
Der Schwarm hatte sich verzogen.
Wenn beim Mann , dachte er, der Sturm der Leidenschaft hervorbricht, dann …
Er nahm sich zusammen. Er las den Auftrag durch. Zwei Seiten, eng beschrieben, in nachitischer Blockschrift, das liebten sie, diese Verrätselungen, diesen Mummenschanz. In Kostümen aus teuren Tuchen, die sich im Wind bauschten, in Mänteln, die wie Fahnen hinter ihnen herwehten. Farben und Signale.
Andrerseits wusste er, dass hinter der Maskerade durchaus eine gnadenlose Weltanschauung stand. Das war kein Spaß. Er hatte selbst einmal daran geglaubt. Das war Denken mit Konsequenzen.
Aber jetzt wollte er nur eines – ihnen entkommen.
So war das also, dachte er. Es existiert keine zweite Kopie, aber eine komplette zweite Handschrift. Sie nennen sie die Beginen-Weissagung. Die Porete-Liebesmystik. Das muss weg. Das wollen sie haben. Und
Weitere Kostenlose Bücher