Die verzauberten Frauen
ihm der lang gezogene Saal mit der dunkelbraunen Holzvertäfelung, dem indirekten Licht und der niedrig hängenden Stuckdecke, besprachen Vater und Großvater Velsmann, dass sie so spät wie möglich nach Fulda zurückfahren wollten. Denn jede Stunde Rheingau und Kloster Eberbach schien ihnen selbst ein kostbarer Schatz zu sein. Als der Verwalter zurückkam und mit den Armen fuchtelte, während er noch nach Worten suchte, wurde auch der Junge aus seinen erneuten Betrachtungen der Bildergalerie an den Wänden gerissen.
»Also, ich wollte Ihnen von de Rancé erzählen. Übrigens sagt mir der Archäologe gerade, dass die Schriftrolle tatsächlich sehr alt sein muss, mindestens aus dem frühen 17. Jahrhundert, vielleicht älter. Wir könnten mit unserer Vermutung also richtig liegen. Über die Kleider und das Behältnis wird noch spekuliert. Ja, dieses Monstrum. De Rancé! Aber vielleicht sollte der Junge lieber draußen sein. Denn um Sie als versierten Ermittler, der noch dazu historisch interessiert ist, um Rat zu fragen, lieber Velsmann, muss ich Ihnen alles erzählen, und das ist teilweise unappetitlich, nichts für Kinder.«
»Martin, geh spazieren, in Ordnung?«
»Nein, ich will aber nicht.«
Diesmal blieb der Vater hart. »Es gibt schöne Räume im Kloster, geh schon.«
»Geh in den Park, mein Junge«, schlug Rosenthal vor. »Ich habe auch eine Suchaufgabe für dich. Wo sitzt der Mönch mit der Kapuze, der in einem Buch liest? Wenn du ihn findest, wartet eine Belohnung auf dich.«
Martin stand mürrisch auf. Wie in der Schule, dachte er. Er ging wortlos hinaus. Kurz bevor er die Tür geräuschvoll hinter sich schloss, hörte er den Verwalter sagen: »Reden wir über das Monstrum! Er scheint wieder aufgetaucht zu sein. Das wäre ein Fall für Sie, lieber Velsmann, keine Polizeiarbeit, denn noch ist ja nichts passiert. Aber es könnte alles Mögliche passieren! Und Sie sind doch an Dingen interessiert, die den Schleier staubiger Geheimnisse tragen. Also …«
Kloster Eberbach war voller geheimnisvoller Zeichen. Der Junge erblickte geduckte Figuren über Türstürzen und unter Säulen, die auf ihrem Rücken endeten, sie wurden von der Last schier zerquetscht, ihre Gesichter drückten Pein aus. Widder, Löwen und Lämmer, Männer in wallenden Gewändern, kniende Frauen, bittende Alte mit verzerrten Mündern. Ob Menschen oder Tiere, sie alle schienen etwas zu befürchten. Etwas stand wohl vor der Tür und wollte herein, und man wollte es abwehren. Einer auf einem Pferd hob sogar seine Lanze, und in seinem Gesicht stand Mordlust. Sogar die schreckenerregenden, geflügelten Drachen schienen Angst zu haben und wollten fliehen. Was war es, das da seine Ankunft ankündigte?
Hatte dieser Herr Rosenthal nicht von einer Verkündigung gesprochen? Stand das schon in der Bibel, wie Vater meinte? Und darum ging es jetzt? Es kündigte seine Ankunft an?
Sich selbst andauernd zu fragen macht dumm, dachte Martin. Aber er konnte sich auch keinen Freund vorstellen, mit dem er über solche Dinge reden konnte.
Der Junge hätte zu gern erfahren, was es mit diesem Derancé auf sich hatte, dem Monstrum. War er es, vor dem alle flüchteten? War er schon in der Nähe? Schon wieder Fragen.
Im Innenhof des Klosters erblickte er sofort den lesenden Mönch mit dem Buch. Martin musste den Hals recken, der Leser befand sich auf der Höhe von Fenstern und dicht über ihm endete eine Säule. Der bärtige Mönch blickte Martin aus den Augenwinkeln an, als habe er auf ihn gewartet. In seinem Blick stand etwas, das der Junge nicht deuten konnte. Etwas wie Triumph, etwas Lauerndes. Und er hielt das Buch so schief, als wollte er etwas herausschütteln. Vielleicht Buchstaben, vielleicht besaß dieses dicke Buch zu viele Worte. Martin musste sich den Fundort nicht einprägen, der war leicht zu finden. Was würde dieser Herr Rosenthal ihm schenken?
Er ging ziellos weiter. In einem Raum stand ein mächtiger Pfeiler, über dem sich die Decke wie ein Fächer entfaltete, schön bemalt, ganz fein, und das Licht fiel vom Innenhof herein wie ein Hinweis auf versteckte Geheimnisse. Martin trat wieder ins Freie. Neben dem Eingang zu diesem Saal las der Mönch. Am Fenster daneben saß ein weiterer steinerner Mönch. Er schrieb etwas auf. Martin kletterte auf die Mauer aus groben Steinen direkt gegenüber, um besser zu sehen. Aber der Mönch verdeckte mit seinen beiden großen Schreibfedern, was er aufschrieb. Am Eingang zur Kirche sah Martin auch
Weitere Kostenlose Bücher