Die verzauberten Frauen
Erzengel.«
»Ein Monstrum eben«, sagte Kleinthaler.
»Wenn sich nur Ehrenbreitstein melden würde«, sagte Rosenthal, am Rande der Verzweiflung.
Martin war gesättigt von Zisterzienser-Fragen. Und von Mönchs-Antworten, die ihm meistens der Großvater gegeben hatte. Ihm schwirrte der Kopf davon, aber gleichzeitig war er fasziniert. Etwas Unbekanntes und Geheimnisvolles hatte in seinem Kinderkopf seine Flügel aufgespannt.
Es ging immer nur bergauf. Warum musste Eltville auch im Tal liegen, direkt am Rhein, ganz unten. Martin trat in die Pedale des klapprigen Fahrrades, mit dem die Tante sonst immer zum Einkaufen fuhr. Er hatte es ausleihen dürfen, um vor dem Abendessen des letzten Urlaubstages am Rhein entlangzufahren. Er fuhr jedoch nach Kloster Eberbach.
Er hatte verstanden. Es ging um sieben Manuskripte, mit säuberlicher Hand geschrieben, es ging um die verschwundene Bibliothek des Klosters. Etwas davon war jetzt wieder aufgetaucht. Und kurz danach wieder verschwunden. Martin stellte sich vor, wo sich die Schrift, die Kinderkleider, die geheimnisvolle Schatulle jetzt befanden. In einer Festung, oben in der Stadt Koblenz, hinter dicken Mauern also, von Kanonen bewacht. Das musste ganz schön wichtig sein!
Alles hatte mit der Zahl Sieben zu tun. Das wusste er. Sieben Mal antwortet die Lorelay auf alle Fragen. Siebenmal in der Woche will ich ausgehn. Und in dem Märchen vom blonden Ameleychen und den Kindern im Wasserschloss wurde die Sieben sogar lebendig und fing an zu tanzen! Sieben Fragen, sieben Antworten. Die sieben Bogengänge führen zu sieben reinen, goldnen Türen, die sieben Treppen dann berühren. Und 1370 wurde das Grabmal des lachenden Abtes angefertigt, 1371 starb der Abt und im Jahr 1707 stellte man das Grabmal aufrecht an die Wand der Kirche. Und das Monstrum war genau 1700 gestorben. Sieben Fragen, sieben Antworten. Ob das was zu bedeuten hatte? Natürlich hatte es das! Und was war mit dem scheußlichen Mord auf dem Berg? Vater wollte sich damit beschäftigen. Martin war es unbehaglich. Mit scheußlichen Morden wollte er nichts zu tun haben. Manche Leute glaubten, das sei das große Geheimnis. Aber das war es nicht. Es rückte einem viel zu sehr auf den Leib. Nachts konnte man dann nicht mehr schlafen. Es grinste einen in der Gestalt von Mördern an.
Die schmale Asphaltstraße wurde jetzt noch steiler. Martin hatte Glück, dass Onkel und Tante in ihrem eingewachsenen Fachwerkhaus Im Marixgarten gleich am Stadtrand an der Bahnschranke wohnten, so waren es von Eltville nach Kiedrich nur zwei Kilometer gewesen, dann durch den Ort, jetzt noch einmal zwei Kilometer. Links und rechts erstreckten sich Weinberge, und Martin konnte unten den Rhein im Sonnenlicht sehen, er funkelte und glitzerte, schien sich aber nicht darum zu kümmern, ob das jemanden beeindruckte. Er floss davon und verlor sich weit hinten, dort, wo dieses Ehrenbreitstein liegen musste. Die Feste, in der sich jetzt die Kinderkleider befanden. Martin stellte sich Kinderkleider in einem Grab vor, tief unter der Erde, beschwert von einem dicken Deckel. Wer machte so was? Er wollte nicht weiter daran denken. Er wollte so wenig daran denken, wie an den scheußlichen Mord auf der Loreley. Er hatte Vater absichtlich nicht gefragt, was da wirklich geschehen war.
Außerdem war es lange her, tot und begraben.
Vielleicht musste man aus den schlechten Dingen ein Gedicht machen, dachte der Junge und trat in die Pedale. Machten das die Dichter nicht dauernd? Sie nahmen irgendetwas und machten ein Gedicht draus. War nicht auch dieser Dichter vom Rhein, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte, im September geboren worden? Vielleicht genau an diesem Tag! Der Junge wusste aber nicht, in welchem Jahr. Auch das musste lange her sein.
Martin probierte es, während auf der rechten Seite eine hohe, weiße Mauer ins Blickfeld kam. Er wusste, dahinter befand sich ein Irrenhaus. Martin machte einen Vers, dann noch einen. Es wollte sich aber nicht reimen, also strich er ihn im Kopf wieder aus. Er hörte jetzt merkwürdige Rufe aus den Häusern hinter der Mauer. Martin fuhr ein paar Kreise vor der Mauer, lauschte hinüber. Die Rufe verloren sich im Tal, lösten sich im Dunst auf, der allmählich ganz leicht von den Wassern emporstieg. Aber das war noch nicht die Nacht, es würde noch lange hell bleiben.
Martin fuhr noch zwei Kreise. Er dachte sich noch eine Zeile aus. Das ganze Leben singt aus meinem Herzen, süßer Tod, süßer Tod, zwischen
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