Die verzauberten Frauen
lesende Mönch sagte etwas, das Martin aber nicht verstand, er war zu weit entfernt. Von der Schrift hörte er nichts mehr.
»Ich wollte es Ihnen nur noch schnell sagen, lieber Velsmann, bevor Sie und Ihre Lieben abfahren. Manche Dinge ziehen eben einen sehr langen Schatten hinter sich her. Dass wir unseren kleinen Schatz hier in Kloster Eberbach jemals wieder sehen, ist unwahrscheinlich. Aber ich gebe, ehrlich gesagt, die Hoffnung nicht auf. Es wäre doch zu schade!« Rosenthal wandte sich mit seiner kleinen Rede vor allem an den mittleren Martin Velsmann. Er hatte ihn kurz vor sieben, gleich nach dem Abendessen bei Onkel und Tante, angerufen. Onkel und Tante gehörten zu den wenigen in Eltville, die einen Telefonanschluss besaßen, deshalb bekamen sie oft Besuch. Vorher hatte Rosenthal ihm davon berichtet, dass die Fundstücke in Ehrenbreitstein tatsächlich wieder aufgetaucht waren. Der Empfänger hatte sie in eine falsche Abteilung bugsiert und dort stehen lassen. Die Polizei hatte vier Stunden lang vergeblich auf den Eingang gewartet und mit Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Koblenz gedroht.
Etwas war allerdings merkwürdig. Eine Schriftrolle wollte der Sachbearbeiter im Bundesarchiv nicht bekommen haben. Kinderkleider, einige andere Kleidungstücke, eine Lederschatulle mit Inhalt, das ja. Aber eine Schriftrolle? Noch dazu eine uralte, mit einer Weissagung? Ja, war das Bundesarchiv etwa Disneyland!
»Ich will jetzt nichts mehr davon hören«, schimpfte Velsmann. »Wir fahren zurück, nehmen unseren normalen Alltag wieder auf. Ich kann das Wort Geheimnis nicht mehr hören!«
Großvater lächelte. Als Martin Velsmann zum Packen ins Schlafzimmer von Onkel und Tante ging, nahm er den Jungen an die Hand und sagte: »Das Beste, was Menschen passieren kann, ist das Geheimnisvolle.«
»Woher weißt du das?«, fragte Martin.
»Ich bin alt genug, um das zu wissen. Aber die Weisheit stammt nicht von mir, sondern von einem genialen Mann. Er ist Astrophysiker.«
»Wie ist sein Name?«
»Albert Einstein.«
»Den kenne ich. Der streckt die Zunge heraus.«
»Das Ehrlichste, was man tun kann, in dieser Zeit, mein Junge.«
II
PROLOG
Er wusste nicht, wohin er geraten war. Aber er kannte die Klänge der Menschen. Er hätte deshalb das Konzert um sein Leben gern gehört, um sein geschenktes Leben, so wie er es sah. Aber alle waren längst gegangen, denen er dieses unbeschreibliche Erlebnis im Geiste gewidmet hätte.
Was blieb ihm noch, ohne jemanden an der Seite, den er lieben konnte, der ihn liebte? Sein Aufenthalt hier durfte nicht so zu Ende gehen, ohne Laute, ohne Musik, ohne Trost. Nur mit diesem Erschrecken.
Wenn er über die Landschaft blickte, sah er Vögelschwärme, die aus einem blau strahlenden, offenen Himmel herabfielen. Er wurde von der sprechenden Kraft dieses Bildes überrumpelt und zog unwillkürlich den Kopf ein. Er sah grüne Spaliere von Rebstöcken, diese Welt von Wegen, die hinunterführten.
Tiefer wollte er nicht stürzen. Um zu leben, muss man sich anklammern, dachte er, sonst fällt man so schnell dem Vergessen anheim.
Er ließ seine Kleider zurück. Und die Menschenhaut mit der Mahnung. Seine Menschenhaut, wie er es verstand. Denn wird nicht jedem Menschen, dachte er, vom Leben, vom Herrgott die Haut abgezogen? Und wird nicht darauf sein Schicksal notiert?
Sollten sie es finden und vor sich selbst erschrecken. Er wollte sich nicht mehr darum bemühen. Es war ihm nie um die Abgründe in der Welt gegangen, sondern um die in den menschlichen Seelen. Sie sind unversöhnlich, dachte er und erschrak über seine Bitterkeit, und deshalb werden sie scheitern. Mit ihrer inneren, ungezähmten Natur, mit der Wildnis ihrer Gefühle in ihrem Inneren, mit dem Wildwuchs in ihren Herzen, werden sie scheitern.
Und ich helfe ihnen nicht, dachte er. Ich habe ihnen zu zeigen versucht, dass es nicht um einen Zufall geht, sondern dass sie in einem geschlossenen Gemälde leben, in einem überlegten Kunstwerk, das ein bildender Geist gestaltet hat. Ein übermächtiger, bildender Geist. Sie begreifen es nicht. Vielleicht erkennen sie irgendwann die Zeichen. Vielleicht in zweihundert Jahren. Diese Vögelschwärme wird es dann nicht mehr geben.
Er erblickte alte Bruchsteinmauern und strahlende Häuser wie einen Blumenstrauß, eingebunden in das Grün der Gärten. Dahinter wuchsen die schroffen Felsen und darauf in Höhe und Kühnheit jene Bauwerke. Der Geruch nach Wasser, Rauch und dem unvergleichliche Wein
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