Die verzauberten Frauen
Das wird ein ganz schönes Gedrängel werden an diesem Tag«, scherzte Anderman.
»Ach, steht sogar der genaue Tag fest?«, wollte Rosenthal mit ironischem Unterton wissen.
»Exakt«, erwiderte Anderman. »Es ist der 20. Dezember 2012.«
»Verheißungen dieses Kalibers brauchen eben einen langen Anlauf, bis sie richtig in Schwung kommen«, nahm Rosenthal seinen Tonfall auf. »Aber irgendwann ist die Materie angereichert, und dann: paff!«
»Am 20. Dezember 2012 geht also die Welt unter – und im Kloster Eberbach liegt der Schlüssel dafür verborgen! Das muss sich doch vermarkten lassen!«
»Wir mögen es bescheidener«, sagte Rosenthal.
»Sie haben es angedeutet, es gibt Erläutungen zu dieser Schrift. Gibt es auch eine Abschrift, eine Kopie?«
»Nein, nicht soweit mir bekannt ist. Hier im Kloster wurde zwar immer eifrig kopiert, Eberbach war berühmt dafür, alles zumindest einmal in Abschrift zu besitzen. Aber von dieser Schrift haben wir nur Kenntnis aus verstreuten Pamphleten ihrer Feinde, der Häretiker und Skeptiker, vor allem aus der reformierten Kirche und aus der Zeit der Romantiker. Ob je ein Mensch den Text im Original gesehen hat, kann ich nicht sagen. Ich hoffte, wir würden diejenigen sein, die den Spekulationen ein Ende setzen.«
»Wer kommt als Verfasser infrage?«, wollte Anderman wissen.
Rosenthal hob bedauernd die Schultern. »Wie gesagt, es gab immer viel Drama um diese Schrift. Ihre Besitzer wechselten häufig, dann verschwand sie und tauchte wieder auf, es wurden sogar Scharmützel um sie geführt. Ich kenne unversöhnliche Dispute darüber, ob sie urchristlichen Ursprungs sei oder nicht.«
»Undenkbar«, beharrte Anderman. »Unter diesen konservatorischen Bedingungen kann sie sich nicht zweitausend Jahre lang gehalten haben. Ausgeschlossen!«
»Sie kann aber auch am Ende des 13. Jahrhunderts entstanden sein«, wiegelte Rosenthal ab. »Oder im 17. Jahrhundert, um den Dreißigjährigen Krieg sozusagen in seiner ontologischen Notwendigkeit zu begründen.«
»Ja, aber von wem verfasst?«
»Niemand weiß das. Es ist einfach furchtbar. Wir hätten jetzt die einmalige Chance gehabt, uns mit dieser Schrift zu beschäftigen. Wir hätten ihr in die Augen sehen können. Wir hätten alles sehen können!«
»Jetzt fassen Sie sich mal«, sagte der a.D. väterlich. »Nichts löst sich in Luft auf. Aber wenn das wider Erwarten doch geschieht, dann stellt sich natürlich die Frage, wer heute ein Interesse daran hat, ein solches Papier an sich zu bringen? Als historische Kostbarkeit? Als Reliquie? Als Schlüssel für irgendwas?«
Der junge Angestellte, dessen Namen Rosenthal noch immer nicht kannte, faltete ein Stück Notizpapier zu einem Schiffchen. »Es waren ja noch andere Sachen dabei«, sagte er schüchtern. »Kinderkleider, ein Schal, so etwas habe ich gesehen. Und diese Schatulle aus einem steinharten Leder mit dem Band darin. Ich meine, vielleicht gilt das Interesse des Diebes ja diesen Dingen.«
Dinslaken sagte: »Das ist unerträglich. Dieses Gewarte geht mir an die Nerven. Benachrichtigt uns Koblenz, wenn es etwas Neues gibt, oder müssen wir selbst nachhaken, Rosenthal?«
»Ich habe darauf bestanden, dass wir sofort informiert werden, aber jetzt ist ja schon das LKA im Spiel, und ich weiß nicht, welche Geheimniskrämerei die veranstalten«, beeilte sich Rosenthal.
Anderman ließ einen Bleistift im Gitter seiner Finger wandern und sah entspannt aus wie jemand, für den alles nur ein oft gespieltes Spiel ist. Dann sagte er: »Stoff zerfällt doch schneller als Pergament, vorausgesetzt, es handelt sich wirklich um Pergament. Diese Kleider, die Schatulle etc. und das Pergament – das kann nicht aus derselben Entstehungszeit sein.«
»Das wissen wir doch nicht, Herr Anderman!« Rosenthals Stimme war zu hoch. Er fing sich wieder. »Das wissen wir nicht.«
»Mir kommt das alles spanisch vor«, sagte der a.D. »Hier im Kloster hat es so was noch nie gegeben. Alles ist aufgeschrieben, in Buchdeckel gepresst, x-mal kommentiert, es sind darüber Abhandlungen, Doktorarbeiten und Disputationen geschrieben worden, schon seit dem 17. Jahrhundert. Es gibt keine Geheimnisse in Eberbach. Die ganze Sache –«
»Und doch ist es so geschehen«, unterbrach ihn Rosenthal. »Und wenn sich jetzt herausstellt, dass irgendjemand ein dringendes Interesse daran hat, diese Dinge in seine Hände zu kriegen, dann haben wir noch ein ganz anderes Problem als wir bisher ahnen. Wenn die
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