Die verzauberten Frauen
dem Morgen- und Abendrot. Nein, das war nicht ausgedacht, dass hatte er schon einmal gehört, und deshalb galt es nicht, jetzt kam es ihm nur wieder in den Sinn. Martin fuhr einen letzten Kreis. Er hörte in der Ferne ein Auto, wartete, bis es heran war und vorbeifuhr, es war ein roter Ford Taunus, dessen Motor rasselte. Dann fuhr er weiter.
Wenn sich alles empörte, verzehrte, verschlänge, dass gar nichts bliebe, bliebe doch Liebe …
Auch wieder von diesem Dichter. Martin gelang es nicht, sich von den Versen zu befreien, die er gehört hatte. Er war eben kein Dichter, der etwas aus dem Nichts heraus erfand, er war Tänzer.
Kloster Eberbach lag da, als sei es unbewohnt. Martin fuhr die Allee entlang, dann den Abhang hinunter, er stand in den Pedalen. Kein Mensch war zu sehen. Nur die Kircheneingänge waren noch immer von Menschenhand mit Bändern verschlossen. Martin beschloss, noch einmal in den Turm zu steigen. Er wollte in dem Raum sein, wo früher die Schriften gelegen hatten. Er wollte die Stimme dieser einen Schrift hören. Es musste ihm gelingen, sie zum Sprechen zu bringen. Er stellte sich vor, wie die Worte der Handschrift lebendig wurden. Vielleicht als Gedicht. Er musste sich nur ausreichend darauf konzentrieren.
Langsam stieg er die Wendeltreppe empor.
Viel war ich krank, kam wenig an die Sonne, die bunte Decke war mein Frühlingsgarten, der Mutter Pflege war mir Frühlingswonne …
Mutter war tot.
Martin war oben angelangt. Wieder fühlte er sich verzaubert vom Wispern der dicken Mauern. Überall in den Sälen und dicken Mauern dieses Klosters wohnten Stimmen, und Gesänge hatten sich eingegraben. Die Stimmen kamen sehr nahe, auch wenn man die Menschen nicht sah, die sprachen. Stimmen und dicke, schweigende Mauern. Und es hallte überall, vor allem, wenn Männer in Klöstern sangen, hallte es. Martin glaubte, die Gegenwart seiner Mutter zu spüren. Warum gerade jetzt? Wollte sie ihm etwas sagen? Wahrscheinlich wollte sie ihn warnen, über Untaten nachzudenken, aber das tat er ja gar nicht. Sie hatte ihm immer erzählt, dass geschehene Untaten sich oft wiederholten. Wenn man öffentlich von solchen Dingen sprach – oder auch nur darüber nachdachte? – sind sie wieder da!
Martin ging durch alle leeren Räume. Als er hinunter in den Klosterhof blickte, sah er drei gedrungen aussehende Männer, die eilig dem Ausgang zustrebten, in ihrer Mitte ging einer, dessen blonde Locken wippten, als wären sie bloß locker aufgesetzt. Für einen Moment sah Martin den lesenden Mönch. Und auch den schreibenden Mönch. Über den Dächern flatterten wieder die Vogelschwärme. Martin setzte sich auf den kalten Fußboden. Die Wände waren nicht mehr mit Zetteln beklebt. Alle in diesem Kloster hatten an Engel geglaubt. Die Mönche kamen ja selbst aus dem Weltall, auf jeden Fall ihre Anführer. Und wenn sie starben, schwirrten sie ganz schnell ab in den Himmel, auch ohne Flügel.
Es war normal, dass sich in Klöstern geheimnisvolle Dinge ereigneten, sonst wären keine Mönche hierher gezogen. Hier war der entscheidende Ort. Und die Zisterzienser sprachen jeden Tag und jede Nacht mit Gott. Gott war ganz oben, ganz unsichtbar, und war doch gegenwärtig. Gerade jetzt blickte er den Jungen an.
Martin stand auf. Er drehte sich mit ausgestreckten Armen im Kreis. Immer schneller, bis ihm schwindlig wurde. Dabei dachte er an die Schrift. Aber es blieb nur ein Gedanke.
Ich konnte oft den Abend nicht erwarten. Wenn sie die Wundermärchen uns gesungen, dass rings die Kinder in Erstaunen starrten.
Mutter war stärker als die Handschrift. Sie war immer noch anwesend. Martin lauschte. Und dann kamen auch noch Vater und Großvater dazu. In ihrer Mitte war Mutters Stimme zu hören. Sie sang, wie sie es jeden Abend an seinem Bett getan hatte.
Gott wolle uns vereinen. Hier spinn’ ich so allein. Solang’ der Mond mag scheinen. Ich sing und möchte weinen.
Wirklich seltsame Worte. Martin erschrak, als ihm einfiel, dass er zurückfahren musste. Das Fahrrad der Tante hatte kein Licht. Nach dem Abendessen würden sie Tante und Onkel verlassen. Morgen früh wartete die Schule auf ihn.
Er blieb stehen und merkte, wie die Räume des Turms kalt und nüchtern wurden.
Er blickte sich noch einmal um. Hierher würde er zurückkehren, dass war ihm klar. Er stellte es sich schon jetzt vor. Der lachende Abt und der lesende Mönch würden ihn dann begrüßen. Vielleicht würde er sieben Mal nach Kloster Eberbach gehen.
Der
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