Die verzauberten Frauen
Erinnerung. Und ein ständiger Wind, der dort oben wehte. Er sah vor seinem geistigen Auge, wie sich ihre Kleider gebauscht hatten. Der Vater war ihm damals streng vorgekommen. Das Kind hatte seine Lebenssituation nicht gesehen. Er hatte aber zu diesem Gewaltverbrechen eine nüchterne Polizistenhaltung eingenommen. Für ihn war es nicht mehr als eine abgelegte Akte, wenn auch mit durchaus interessanten Begleitumständen. Und vor allem: ein ungeklärter Fall. Das musste ihn gereizt haben.
Velsmann ließ sich eine Kopie des Artikels anfertigen. Dann stiefelte er zurück in sein Büro.
Es war sieben Uhr. Er griff zum Telefon. Andrea war noch immer in der Luft. Sie muss immer was inszenieren, dachte Velsmann mit einer Mischung aus Ärger und Stolz. Sie kann nicht einfach nur auf zwei Beinen hin und her gehen. Passt man nicht auf, verschwindet sie in den Wolken. Oder taucht auf Meeresböden. Sie hatte ihn mit der Idee konfrontiert, eine zweite Ausbildung zur Meeresbiologin zu absolvieren. In Kiel.
Küchler betrat sein Büro. Er brachte die Zeitung vom Wochenende und tippte auf eine Nachricht im Mittelteil. »1984«, sagte er. »Jemand hat sich in der Rhön das Leben genommen, aus Angst vor dem Weltuntergang.«
»1984? Soll da die Welt untergehen, Kollege?«, fragte Velsmann verwundert.
»Manche glauben es offenbar. Eigentlich handelt es sich ja nur um einen Roman von diesem Orson Welles.«
»George Orwell«, korrigierte Velsmann.
»Oder so«, nickte Küchler und verschwand wieder.
Martin Velsmann las die Meldung. Fladungen in der Rhön ging ihn nichts an. Die Kollegen vor Ort würden sich um den Fall kümmern. Es war ein ganz ordentlicher Selbstmord. Mit Badewanne und Rasierklinge. So, wie sich das gehörte.
Und nicht mit abgezogener Menschenhaut.
Das Telefon schreckte ihn auf. Andrea sagte: »Bist du endlich wieder da, du Herumtreiber?«
Erleichtert über ihre muntere Stimme erwiderte Velsmann: »Ich fahre sofort in die Wohnung. Essen wir heute Abend?«
Andrea sagte: »Und wie! Ich habe einen Mordshunger. Ich bin schon am Kochen.«
»Ich komme!«, beeilte sich Velsmann zu versichern.
Mein Gott, dachte er, alles andere ist doch eigentlich völlig unwichtig!
Die Woche begann mit Langeweile. Karen Breitenbach befand sich auf einer Fortbildung an der Mosel, die Hauptwachtmeister Küchler und Schwan waren im Außendienst. Die Untersuchung des Selbstmords in der Rhön konnte ohne das Dezernat für Gewaltverbrechen abgeschlossen werden. Kriminalrat Pfedder, der Büroleiter in Fulda, ließ Velsmann in Ruhe. So konnte der Inspektor Brentano lesen.
Mittags meldete sich Breitenbach und gab eine Einschätzung darüber ab, wann sie wieder in Fulda sein würde. Je früher, desto besser, erklärte sie, aber Velsmann erwiderte darauf, sie solle sich nur tüchtig fortbilden, bald käme eine Zeit, in der Kolleginnen damit bis ganz nach oben aufsteigen konnten. Ob er daran tatsächlich glaube? Das täte er ganz fest im tiefsten Inneren.
In seinem tiefsten Inneren saß in Wahrheit noch immer der brennende Magenschmerz. Velsmann hatte nicht gut geschlafen. Dass er von der Loreley mit drei aufgespannten Vogelscheuchen geträumt hatte, schien ihm selbstverständlich. Neben der Lektüre der Chronika von Brentano tippte Velsmann einen Kommentar zum scheußlichen Mord auf der Loreley in den Computer. Der Rechner rumpelte und ratterte, wenn er auf der Festplatte abspeicherte, aber es ging immer noch besser als mit der Schreibmaschine. Pfedder schneite herein, ging einmal quer durchs Büro als suche er etwas, aber Velsmann wusste, der Organisations-Fetischist wollte nur kontrollieren, ob die Diensthabenden gut beschäftigt waren.
Pfedder warf einen misstrauischen Blick auf Velsmanns Lektüre. Dann ging er wieder.
Aber er kam zurück, steckte seinen Vogelkopf in die Tür und fragte: »Ermittlungsarbeit?«
Velsmann nickte. »Und wie!«
»Und was?«, klapperte Pfedder mit seinem Vogelschnabel.
»Eine Prophezeiung auf einem uralten Pergament. Darauf ein Kommentar unseres Lieblingsdichters. Inspektor Martin Velsmann sucht die Synergie.«
»1984 spukt überall herum, was?«
»Ja«, erwiderte Velsmann. »Weiß dieser Orwell, was er da angerichtet hat?«
Pfedder schien zu überlegen, dann sagte er: »Es ist die Zeit für Prophezeiungen, das ist klar. Wir werden bis zum nächsten Jahr noch unser blaues Wunder erleben. Unter den Fundamenten Jerusalems vermuten Forscher heute Dokumente, die auf die Entstehung von
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