Die verzauberten Frauen
Argumenten. Er musste es einfach tun. Und er war schon mittendrin.
Velsmann klopfte sich auf die Brust, wo er seinen Terminkalender in der Jackeninnentasche spürte. Der Rheingau war ihm einfach wie eine Verheißung vorgekommen. Dort wohnten die Nachkommen des scheußlichen Verbrechens. Oder zumindest jene, die ihm davon erzählen konnten. Die das Blut gesehen hatten. Und noch immer sahen.
Er begann schon, wie ein Poet zu denken.
Oder wie ein Verrückter.
Velsmann überholte riskant und zu schnell. Für einen Moment überlegte er, ob er das Blaulicht aufs Dach setzen und die Sirene einschalten sollte, er ließ es aber. Das würde er im Fall der Fälle nicht rechtfertigen können. Steuerzahler und Nichttäter haben das Recht, dachte er, von der Polizei nicht über Gebühr belästigt zu werden.
Er floh.
Es war wie eine Befreiung.
Als zur Rechten die Hügel und Kirchtürme von Martinsthal und Rauenthal in Sicht kamen, eine Art Portal, wurde er ruhiger.
Aber erst als er langsam auf die Straße nach Winkel einbog, begann er richtig darüber nachzudenken, was er tat. Und wo er war. Der Tunnel öffnete sich.
Eine gute Stunde nach seiner Abfahrt in Fulda rief er Andrea an. Er erzählte ihr, was er Pfedder erzählt hatte. Sie käme sowieso erst nach zehn aus einem Vortrag zurück, sagte sie. Und wenn er schon vor Ort wäre, solle er doch gleich das Hotel buchen.
Das mache er.
Als er eben aufgelegt hatte, schlug das Telefon an.
»Ja, Velsmann?«
Es rauschte im Hörer.
»Hallo? Wer ist da? – Kriminalrat Pfedder?«
Keine Antwort. Dann hörte Velsmann ein Klicken im Hörer.
»Da hat einen der Mut verlassen«, brummte Velsmann.
Er nahm das klobige Gerät erneut in die Hand und tippte die Nummer des Mannes mit dem Felsbrocken auf dem Gesicht an. Sievers, natürlich, so hieß er. Erst als Velsmann sein knurriges »Wer ist dran?« vernahm, fiel ihm der Name ein.
»Herr Sievers, ich möchte mit Ihnen sprechen. Es geht um den Dichter. Ich komme sonst nicht weiter.«
»Was für ein Interesse haben Sie eigentlich wirklich an Clemens?«
»Es hat einen Mord gegeben. Brentano war angeblich Augenzeuge. Ich habe gelesen, er stand selbst kurz davor, auf der Loreley Selbstmord zu begehen.«
Schweigen.
»Herr Sievers? Ich muss mit Ihnen reden!«
»Sie besitzen nicht gerade das, was man ein literarisches Ausgangsinteresse nennen könnte.«
»Dichter existieren auch außerhalb ihrer Werke. Oder nicht?«
»Kommen Sie her. Ich bin wie immer am Nachmittag im Garten.«
»Ich kann Sie beinahe schon sehen, ich bin nämlich bereits hier.«
»Pfft!«, machte Sievers, dann war der Kontakt getrennt.
Er muss mich die Handschrift sehen lassen, dachte Velsmann, das muss ich schaffen. Und wenn ich ihn umbringe.
Beim Gedanken daran spürte Velsmann, wie etwas in ihm zu vibrieren begann. Er atmete schneller. Eine Art Libelle regte ihre Flügel, der Flügelschlag wurde schneller, raste, ein endloses Schwirren und Surren. Das Tier wollte heraus. Er musste es geschehen lassen.
Schwer atmend stieg er schließlich aus.
Sievers stand an der Mauer. Als Velsmann durch die Gartenpforte trat, deutete der schwere Mann auf eine Bank an der Mauer. Er trug einen Strohhut und sah seinen Besucher mit gesenktem Kopf an. Mit einer Art freundlicher Feindseligkeit in den Augen.
»Jeder von uns hat seinen beschränkten Blick auf die Dinge«, sagte Sievers. »Jeder sieht nur seinen kleinen Ausschnitt. Ich verstehe, dass ein Polizist nur ein Verbrechen sehen kann und will. Aber das kann schon lästig werden. Eine Art Manie. Ich kann Sie nur davor warnen.«
»Ich bin es gewöhnt, zur Last zu fallen. Ohne dieses Risiko kläre ich keinen einzigen Fall.«
»Von welchem Mord sprachen Sie?«
Velsmann erzählte, was er wusste.
Sievers ließ eine Art Stöhnen hören. »Ich kenne natürlich das Werk Brentanos. Und ich weiß auch, dass es in seinem Leben Dinge gab, für die sich jeder Polizist interessieren würde. Wir müssen nur vorsichtig sein. Die Methode, aus jeder Gedichtzeile biografische Schlüsse zu ziehen, führt nicht immer zum Ziel.«
»Sie glauben also nicht an die Existenz einer Art Tatort-Protokoll?«
»Das ist Humbug.«
»Und der Auszug aus der Chronika auf dem Pergament?«
»Darüber kann ich nur spekulieren.«
»Dann tun Sie es doch bitte – für mich!«
»Können Sie sich vorstellen, dass die Romantiker eine eigene Sprache hatten? Dass ihre Poesie, wie übrigens jede Art von Literatur, eine eigenständige Wahrheit
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