Die verzauberten Frauen
weißen Maden.
Ein Bild, das sich in Alpträume einnisten kann: Menschenhaut, in Lebensgröße aufgespannt, von den Kopfhaaren bis zu den Zehenspitzen, weißliche Klümpchen Fleisch und rote Blutbahnen an den Innenseiten, außen die bleiche Oberfläche einer einst schützenden Hülle, jetzt schutzlos im Wind schaukelnd.
Das war mehr als eine Mordtat. Hier hatte sich ein monströser, unversöhnlicher Hass ausgetobt. Ein Hass, der eine sehr lange Vorgeschichte haben musste.
Velsmann schüttelte sich. Wer machte so etwas?
Und was, um Gottes Willen, wollte er damit sagen?
Andrea hatte ihm einen Zettel hinterlassen. Bin beim Segelfliegen. Du hältst es ja nicht für nötig, nach Hause zu kommen. Sehen uns über den Wolken.
Velsmann warf seine Reisetasche auf den Boden und ging zum Telefon. Er wusste, dass Andrea in der Fliegerschule auf der Wasserkuppe registriert war. Er erreichte seine Frau aber nicht. Sie sei gerade aufgestiegen, das Propellerflugzeug, das sie hochgezogen hatte, sei noch in der Luft. Er melde sich später noch mal, sagte Velsmann. Ja, aber nicht vor sieben.
Musste er sich Sorgen machen?
Sicher hatte sich Andrea vernachlässigt gefühlt.
Die gemeinsame Wohnung in der Sebastianstraße duftete nach Blüten. Velsmann sah die Blumensträuße, die Andrea in mehreren Vasen arrangiert hatte. Er hatte längst ein schlechtes Gewissen. Andrerseits wusste er, wie sehr Andrea es genießen konnte, selbstständig zu handeln. Manchmal brauchte sie ihn einfach nicht.
Er griff noch einmal zum Telefon. Die Auskunft verriet ihm die Nummer des Frankfurter Hochstiftes. Dort meldete sich jedoch niemand. Es war Sonntag, machte sich Velsmann klar. Auch die Pflege des kulturellen Erbes braucht freie Wochenenden.
Er packte seine Tasche aus, räumte die unbenutzten Kleidungsstücke säuberlich in den Schrank zurück. In der Küche standen Töpfe mit vorbereiteten Zutaten für ein Abendessen. Offenbar hatte Andrea an einen Gemüseauflauf gedacht.
Martin Velsmann verließ die Wohnung und fuhr in die Polizeidirektion. Die Dienst habenden Beamten jetzt am späten Sonntagnachmittag waren überschaubar, sie hießen Küchler und Schwan, und er begrüßte sie mit einem Winken. Auf seinem Schreibtisch lagen Papiere, die ihm Karen Breitenbach dagelassen hatte. Es handelte sich um nichts Besonderes, Gewaltverbrechen waren nicht angezeigt worden, der Brand in der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars war inzwischen wohl gelöscht. Das ging ihn auch alles nichts an.
Martin Velsmann ließ seine Blicke wandern. Über den Schreibtisch, durch das Büro, durch die anderen Büros, soweit er sie durch die Glaswände einsehen konnte. Überall senkte sich die Ruhe wie feiner Staub aus Zeit herab. Legte sich auf alles. Das war gut. Aber auch erschreckend. Während nichts geschah, rasten die Leben davon. Velsmann spürte es in seinem Körper, der wurde älter. Genau in diesem Moment. Dann begriff er, dass sich sein Magen meldete. Es rumorte in ihm. Dann wurde ihm übel.
Er ging rasch auf die Toilette und musste sich übergeben. Das kam bei ihm so gut wie nie vor. Als Kind hatte er eine panische Angst davor gehabt. Es war ihm vorgekommen, als stülpten sich seine inneren Organe beim Würgen nach außen. Er würde ersticken.
Velsmann wusch sich und ging einigermaßen ratlos in sein Büro zurück.
Er saß regungslos da. Versuchte, an nichts zu denken, schluckte regelmäßig und bewusst. Die Texte des Dichters schoben sich allmählich wieder in seine Gedanken. Was kannte er von Brentano. Als Kind hatte ihm sein Großvater das Märchen Wie das Goldfischchen wiederkehrt und von dem blonden Ameleychen und den Kindern im Wasserschloss des Alten Rheins erzählt. Von der Chronika des fahrenden Schülers kannte er nur das entsprechende Zitat durch den Archivar im Brentanohaus. Und Lore Lay . Was konnte er damit anfangen?
Er ging in den Keller und ließ sich vom diensthabenden Archivar den entsprechenden Jahrgang der Zeitschrift Der Gewerkschafter heraussuchen. Die Ausgabe, die er suchte, war in einem dickleibigen Folianten mit rotem Einband abgelegt.
Ungeklärte historische Gewaltverbrechen. Der scheußliche Mord auf der Loreley von 1801. Ein Aufsatz von Inspektor Martin Velsmann.
Velsmann las den Artikel seines Vaters mehrere Male. Er hatte ihn 1959 geschrieben, also zwei Jahre, bevor sie gemeinsam am Rhein gewesen waren. Velsmann versuchte, sich ihren Aufenthalt auf der Loreley vorzustellen, aber es kamen ihm nur Geräusche in
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