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Die verzauberten Frauen

Die verzauberten Frauen

Titel: Die verzauberten Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berndt Schulz
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was ihn da gepackt hatte. Es war nicht das erste Verbrechen, das ihn herausforderte. Auch wenn das, was Rosenthal ihm da eröffnet hatte, wirklich an die Grenze des Erträglichen ging. Er musste darüber nachdenken. Er musste in Fulda den Essay seines Vaters lesen. Dann musste er sich eine Meinung bilden.
    Und dann?
    Alles, was geschieht, hat mit dir zu tun!
    Velsmann saß im Auto und blickte durch die Frontscheibe auf den ruhig dahinfließenden Strom. Wenn er jetzt den Zündschlüssel umdrehte, musste er nach Fulda zurückfahren. Er tat es nicht. Er stieg wieder aus, ging ein paar Schritte durch eine Platanenallee am Ufer entlang, musste Spaziergängern ausweichen, die zur Mittagszeit offenbar schon einige Gläser Wein genossen hatten. Velsmann stieg wieder in den Scorpio. Er nahm das Mobiltelefon aus der Ladestation und rief Andrea an.
    »Ich bleibe noch bis zum Abend. Ich habe gerade von einem interessanten Fall gehört. Schon mein Vater hat mir damals davon erzählt. Ich muss darüber nachdenken.«
    »Mein Gott, Martin, es ist zweiundzwanzig Jahre her, dass ihr zusammen in Eltville wart, du, dein Vater, dein Großvater, das hast du mir selbst gesagt!«
    »Ich weiß auch nicht. Ehrlich gesagt, ich kann es nicht erklären. Es packt mich eben.«
    »Ist irgendwas Besonderes los? Hast du Weltschmerz, oder was? So kenne ich dich gar nicht.«
    »Nein, nein. Ich genieße nur die Auszeit. Morgen früh warten die Akten im Büro, und ich, ach, ich weiß nicht. Irgendwie kommt mir der Rheingau wie eine Welt außerhalb der Welt vor. Eine verzauberte Gegend. Ich kann durchatmen.«
    Er hörte an Andreas Stimme, dass sie misstrauisch wurde. Und konnte er ihr das verdenken? »Sag mal, gibt es da jemanden? Kennst du jemanden, mit dem du dich treffen willst? Eine   – Jugendfreundin, was weiß ich?«
    »Sei nicht albern, Andrea!«
    »Ich mein’ ja nur.«
    »Es ist alles in Ordnung, glaub mir! Gib mir noch ein paar Stunden.«
    »Also bis später!«
    Sie legte auf. Velsmann tat es ihr zögernd nach.
    Er startete den Wagen. In Gedanken versunken fuhr er automatisch weiter. Auf der Rheinuferstraße in Richtung Westen. Links der Strom, rechts alte Gemäuer inmitten von Weinbergen. Er passierte den alten Verladekran bei Oestrich. In Rüdesheim stieg er aus und betrat den schmucken Yachthafen. Hier herrschte die Stimmung eines halb mondänen Seebades. Velsmann stiefelte herum. Dicht am Wasser ließ er sich auf einer Bank nieder; die schmalen Gassen im Rücken, durch die sich weinselige Touristen schoben. Er starrte in die Fluten.
    Er war sich im Klaren darüber, dass ihn nicht die kriminaltechnischen Fakten der Angelegenheit interessieren. Es war etwas anderes, etwas viel tiefer Gehendes. Es rührte an Urängste.
    Kurz entschlossen betrat er einen Souvenirladen. Er erstand ein Taschenbuch mit Brentanos Gedichten, Märchen und Erzählungen. Die Verkäuferin strahlte ihn an und wollte ihm noch einen Satz Weinrömer mit grünem Schaft verkaufen. Ein Sonderposten. Velsmann lehnte ab. Er trug sein Buch ans Wasser zurück und schlug das Inhaltsverzeichnis auf.
    Lore Lay .
    Damals schrieb man das noch so. Velsmann las die Strophen mehrmals. Und durch den Klang der Worte, durch die Macht des Reimes, durch den Rhythmus der sich wiederholenden Sätze hindurch, vernahm er die raunende Stimme des romantischen Dichters. Sie erzählte von ganz anderen Dingen, es waren andere Strophen, die sein Gemüt so stark in Beschlag genommen hatten. Velsmann musste sich setzen und überlegen. Der Polizist in ihm suchte nach einer Erklärung. Dann wurde es ihm klar. Was da bis zu ihm drang, klang wie ein Hilferuf. Ein Schluchzen aus tiefer Pein.
    Aber waren nicht alle guten Gedichte aus solchen Gefühlen gemacht?
    Konnte es wirklich sein, dass Brentano in diesem Gedicht verarbeitete, was er als Augenzeuge erlebt hatte? Etwas, dass so schrecklich war, dass seine Seele es nicht ertrug?
    Ging es bei Gedichten überhaupt um etwas wie einen Wahrheitsgehalt?
    Hatte Poesie nicht ihre eigene Wahrheit und Wirklichkeit?
    Velsmann wusste, wenn er darauf Antworten brauchte, musste er mit Fachleuten sprechen.
    Allmählich wurde ihm bewusst, dass er sich auf glitschigem Untergrund bewegte. Man konnte schwindlig werden, wenn man sich dort bewegte und in solche Abgründe der Vergangenheit blickte.
    Diese Dinge waren unaufgeklärt. Also gewissermaßen noch immer da. Absolut gegenwärtig.
    Velsmann erhob sich. Ein Dampfer tutete und legte ab. Ein zweiter folgte. Wenn er sich zum

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