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Die verzauberten Frauen

Die verzauberten Frauen

Titel: Die verzauberten Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berndt Schulz
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gewesen. Was steckte dahinter? Kam das seinem Wahn entgegen, mit Zahlen und Worten etwas bannen zu wollen? Sein Vater war 1797 an einem falsch behandelten Gallenfieber gestorben   – unter den gleichen Umständen wie der lachende Abt von Kloster Eberbach, Gerlach von Nassau. Velsmann fiel ein, dass man damals gemunkelt hatte, er sei von Fundamentalisten der Stadt und Kirche Mainz oder von den Nachfolgern seines Dauerrivalen Heinrich von Virneburg ermordet worden. Der Fall blieb so mysteriös, dass erst zehn Jahre später der nächste Erzbischof eingesetzt werden konnte. Aufgeklärt wurde die Angelegenheit nie.
    Die Gestalt des lachenden Abtes, die Velsmann als Junge verzaubert hatte, blieb vor seinem geistigen Auge lebendig. Er erinnerte sich an Zahlen. Gerlach war am 7.   April 1346 zum Mainzer Erzbischof gewählt worden, obwohl er lediglich die niederen geistlichen Weihen besaß. 1346! Es war ihm nach siebenjähriger Wartezeit gelungen, sich als Erzbischof zu etablieren. Als er 1371 verstarb, wurde seine Leiche nicht nach Mainz überführt, sondern zur Beisetzung ins Kloster Eberbach gebracht. 1707 stellte man dort sein Grabmal aufrecht an die Wand.
    Ein Wust von Daten. Ein Wust von Sieben.
    Clemens hatte an Prophetien geglaubt, weil alles Wichtige in seinem Leben mit der Zahl Sieben zu tun hatte.
    Konnte man damit etwas anfangen?
    Velsmann hatte seinem Sohn erklärt, die Zahl Drei sei ein Lehrzeichen der Liebe und Eintracht. Die Sieben erscheine neben Drei, Fünf und Neun als die wichtigste Zahl. Sie gehe hervor aus der Vereinigung der in ihrer Art vollkommenen Drei und Vier.
    Tibor knüpfte unaufhörlich Verbindungen. Aber er kam nicht weiter und probierte etwas anderes aus. Seine Finger flogen über die Tastatur, er zauberte Daten aus den Fingern.
    Nach einer Weile gab er auf und ließ sich von Andrea in die Küche locken. Er hatte sich zwei Tage lang fast ausschließlich von Kartoffelchips ernährt. Velsmann ermunterte ihn, es für heute gut sein zu lassen. Aber wie er seinen Sohn kannte, würde er sich kaum daran halten.
    Martin Velsmann setzte sich nach dem Essen ins Auto und fuhr nach Wiesbaden. In seinem Kopf schwirrten Daten.
    In der Staatsbibliothek ließ er sich dickleibige historische Wälzer bringen. Was war im Jahr 53 geschehen? In einem Lexikon der Kirchengeschichte stieß er auf das Datum und glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Es war das Jahr, in dem der Märtyrer Bartholomäus in Armenien ermordet worden war! Velsmann blätterte weiter. Was ergab 1346 außer der Inthronisierung Gerlachs, was war im Jahr 1946 geschehen? Warum ausdrücklich diese Jahreszahlen, die sechshundert Jahre auseinanderlagen? Velsmann fand viele Daten und Fakten. Aber nichts deutete auf einen relevanten Zusammenhang mit der Botschaft auf dem Pergament hin.
    Velsmann versuchte etwas anderes. Er ließ sich von der jungen Bibliothekarin, in deren Gesicht Sommersprossen tanzten, das Gesamtwerk Brentanos bringen. Er las im dritten Band, der Erzählungen und andere Prosa enthielt, zum soundsovielten Mal den Text der Chronika des fahrenden Schülers nach.
    Ein wunderbarer Text. Velsmann kopierte den Auszug, den Brentano auf das Pergament geschrieben hatte. Er zog mit einem roten Filzstift einen Kreis um die Passage. Las sie immer und immer wieder. Nein, er kam nicht weiter.
    Velsmann versuchte es mit den Paralipomena im Anhang. Er studierte die Angaben der Quellen, die Brentano für seine Erzählung benutzt hatte. Darunter waren drei Blätter mit Quellennotizen von Brentanos Hand als Faksimile. Eindeutig die Handschrift, die auf dem Pergament lag, mit allen grafologischen Eigenarten.
    Der Dichter hatte im Jahr 1801 mit der Erzählung begonnen, 1805 lieferte er eine Überarbeitung ab, die aber unveröffentlicht blieb. Ein Jahr später beendete er die Urfassung im Kloster Eberbach, es war die Zeit seiner größten Lebenskrise. Erst im Jahr 1818 erschien die Erzählung in Friedrich Försters Sängerfahrt. Neujahrsgabe für Freunde der Dichtkunst und Mahlerey . Das Originalmanuskript blieb lange verschollen, erst 1880 tauchte eine wenig getreue Fassung auf. Sie war von unbekannter Hand verändert worden. Warum so viel Mühe? Und wer war die »unbekannte Hand«? Die Urfassung war jedenfalls verschwunden geblieben.
    In Anmerkungen wurde lediglich auf das Erzählproblem bei Brentano hingewiesen, auf abweichende Fassungen in der Entstehungszeit, auf literarisch-historische Anspielungen im Text.
    Velsmann las das alles mit

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